Dem Bundesgerichtshof (BGH) fehlte es beim Urteil zu Rx-Boni der Versender an Daten und Evidenz – und den Karlsruher Richtern selbst an Marktrealität. Denn wie sonst kommen sie zu dem Schluss, dass keine Wiederholungsgefahr in puncto Boni besteht. DocMorris bewies nur wenige Stunden nach Urteilsverkündung das Gegenteil. Und auch, dass das Apothekensterben keine Gefahr für die flächendeckende Versorgung darstellt, lässt an der Faktizität der Richter zweifeln. Ein Kommentar von Nadine Tröbitscher.
Die Rx-Boni der Versender sind zulässig – zumindest nach der alten Regelung nach § 78 Arzneimittelgesetz (AMG). Der BGH hat eine Klage des Bayerischen Apothekerverbands (BAV) gegen DocMorris beziehungsweise die Tochterfirma Taminis abgewiesen – unter anderem weil nicht mit statistischen Daten oder vergleichbaren Mitteln belegt wurde, dass eine gleichermaßen für inländische Apotheken wie für europäische Versandapotheken geltende Arzneimittelpreisbindung eine geeignete Maßnahme zur Sicherstellung der bestehenden Apothekendichte ist. Zudem wurde aus Sicht der Richter nicht nachgewiesen, dass der Erhalt des Status quo der Apothekendichte für die flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit Arzneimitteln erforderlich ist.
Zugegeben, es lässt sich keine genaue Zahl sagen, wie viele Apotheken es braucht, um die Versorgung flächendeckend zu sichern, doch klar ist, jede Apotheke, die vom Netz geht, ist eine zu viel. Somit braucht es alle – die kleinen und die großen, auf dem Land und in der Stadt. Keine Apotheke, keine Versorgung. Das hat auch die Politik erkannt. „Es darf keine Apotheke mehr vom Markt verschwinden, wir brauchen sie alle“, appellierte kürzlich die gesundheitspolitische Sprecherin der Union Simone Borchardt. Doch in Karlsruhe sind harte Fakten gefragt. Und die fehlten – minus 530 Apotheken in 2024 und bereits 250 Schließungen im ersten Halbjahr belegen anscheinend nicht, dass die flächendeckende Versorgung in Gefahr ist.
„Rückläufige Betriebsergebnisse und ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl der Präsenzapotheken seit dem Jahr 2000 bedeuten im Übrigen nicht zwangsläufig eine Gefährdung der flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln“, so die Richter. Weil die Versender einspringen und die Versorgung sichern? Oder wie begründen die Richter ihre Sicht der Dinge?
Von wegen keine Wiederholungsgefahr. Diese Einschätzung zeigt, die fehlende Marktrealität der Richter. Nur wenige Stunden nach dem BGH-Urteil spendierte DocMorris in einer Gutscheinaktion bis zu 15 Euro pro Medikament. Aktiviert wird das Guthaben 14 Tage nach Bestellung, dann kann es zur Zahlung verwendet werden. Und auch eine Erstbegehungsgefahr wurde ausgeschlossen – für eine Versandapotheke, die ihren Betrieb längst eingestellt hat.
Zu bezweifeln, dass das Apothekensterben die flächendeckende Versorgung gefährde, ist zu kurz gedacht. Natürlich kann ein gesunder Mensch kinderleicht Schmerzmittel online bestellen. Auch Chronikern, die fortwährend die gleiche Medikation benötigen, könnte dies unter Umständen noch gelingen. Doch was ist mit den Schwerkranken, den multimorbiden Patient:innen, den Heimbewohnern, die nach einem stationären Aufenthalt immer wieder neu eingestellt werden müssen? Fehlt hier die Expertise und die Nähe zur Vor-Ort-Apotheke, droht ein Zusammenbrechen eben dieser wichtigen Versorgung von Patient:innen. Von den Aktionen der Präsenzapotheken bei Lieferengpässen ganz zu schweigen.
Der Fall zeigt, wer Evidenz fordert, muss auch über den eigenen Tellerrand schauen und den Markt im Blick haben. Denn auch, wenn die Karlsruher Richter die Chance für ein neues Verfahren nicht ausschließen, haben sie den Apotheken mit dem Urteil mehr als einen Denkzettel erteilt und den Weg für den Fall der Preisbindung geebnet.