Rosinenpickerei der Versender

Inhaberin schlägt Alarm: „Preis wichtiger als Arzneimittelsicherheit“

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Berlin -

Apothekerin Anna Rachow ist Inhaberin der beiden Linden-Apotheken in Oppenheim und Nierstein – und voll digital unterwegs: Mit Online-Shop, App mit CardLink-Verfahren und Botendienst. „Mit der App können wir genau dasselbe, was der Versender auch kann.“

Knapp vor Beginn der Corona-Pandemie machte sie sich selbstständig. Damals waren es drei Apotheken, die die Inhaberin führte. „Ich weiß, wie bitter es ist, eine Apotheke schließen zu müssen“, erzählt sie. Am 31. Dezember 2021 schloss sie die Türen ihrer Center-Apotheke in einem Kaufland in Oppenheim.

Ausschlaggebend war hier vor allem der Fachkräftemangel, erklärt sie. Wenn man Apotheken übernehme, müsse man auch damit rechnen, dass Mitarbeiter gehen. Diese würden den Chefwechsel vielleicht als Anlass nehmen, „sich auch mal umzuschauen“. Es gäbe auch welche, die schon länger wechseln oder aufhören wollten. „Aber sie wollten die alte Chefin persönlich einfach nicht im Stich lassen“, so die Apothekerin. „Allerdings hielten viele während Corona noch die Füße still.“

„Stopp, ich kann nicht mehr“

Als sich die Pandemielage entspannte, musste sie innerhalb von drei, vier Monaten plötzlich die Kündigungen von mehreren Vollzeitkräften abfangen. Die vertraglich vereinbarten Öffnungszeiten von 9 bis 19 Uhr ließen sich Anfang 2021 nicht mehr stemmen. „Ich war neu als Unternehmerin, dann kam die Pandemie und im Mai habe ich schließlich gesagt: Stopp, ich kann nicht mehr, ich mache die eine Apotheke zu“, erzählt Rachow.

Sie habe auch versucht, mit Kaufland wegen des Personalmangels zunächst reduzierte Öffnungszeiten zu vereinbaren. „Doch darauf hat sich das Unternehmen nicht eingelassen.“ Einen Nachfolger fand sie nicht und in den ehemaligen Räumlichkeiten entstand nach einem Leerstand von etwa sechs Monaten nun ein Brillengeschäft. „Offenbar war es auch einfach kein guter Ort für eine Apotheke“, sagt die Inhaberin heute. Dem Standort trauert sie nicht hinterher, sie sei glücklich mit ihren beiden Apotheken.

Vor Ort leistet mehr

Neben dem Fachkräftemangel ärgert sich die Apothekerin im Alltag besonders über den wachsenden Einfluss ausländischer Versender. „Unterschiedliche Rezepturen oder Kompressionsstrümpfe anpassen – das macht der Onlinehandel alles nicht“, betont sie. „Und eine persönliche Beratung bieten die großen Versender auch nicht.“ Außerdem biete sie in ihren Apotheken auch pharmazeutische Dienstleistungen (pDL) an, zum Beispiel Blutdruckmessen oder die richtige Anwendung von Inhalatoren. „Ich frage auch gerne nach, was der Arzt bereits erklärt hat – zu 99 Prozent der Fälle nämlich gar nichts.“ Dabei sei die richtige Anwendung doch wichtig: „Patienten sollen sich ja nicht unnötig oder unwirksam mit Arzneimitteln vollpumpen“, betont die Apothekerin.

Anfang September plane sie zudem einen Aktionstag, bei dem Patienten ihre Geräte prüfen lassen können – wie beim TÜV. Viele ihrer Kunden seien erst einmal verwirrt und bräuchten Aufklärung: „Ich erkläre den Kunden dann, dass auch das Messgerät regelmäßig geprüft werden muss – und zwar zu ihrer Sicherheit und Gesundheit.“

Man dürfe den Menschen nicht einfach Geräte mitgeben – man müsse die Anwendung und Wartung auch deutlich erklären, wenn nötig auch mehrfach. „Schließlich nützt auch das beste medizinische Gerät bei der falschen Anwendung gar nichts“, so die Apothekerin. Im November plant sie zudem eine Venenmesswoche.

CardLink plus Bote

Auch die Linden-Apotheken haben einen Online-Shop, und über eine E-Rezept-App können bequem zu Hause Rezepte über das CardLink-Verfahren eingelesen und entweder zur Lieferung nach Hause oder zur Abholung in der Apotheke bestellt werden.

„Unser Botenfahrer klingelt und spricht mit den Leuten“, erklärt Rachow. Er kenne die Leute im Ort. Er könne zur Not auch beim Einlesen des Rezeptes helfen und auch Kartenzahlung sei über ein mobiles Gerät bei ihm möglich. „Wenn Kunden zum Beispiel nicht online bezahlen möchten“, so Rachow. Auch wenn es Fragen gebe, sei er da und helfe.

Versand gefährdet Sicherheit

Neben dem Service hat die Bestellung von Arzneimitteln über die Vor-Ort-Apotheke noch einen anderen entscheidenden Vorteil: die Arzneimittelsicherheit. „Wenn meine Milch drüber ist, dann merke ich das. Aber was ist mit meinem Ibuprofen, das bei über 30 °C oder unter 10 °C über die Grenze gefahren wird? Da merke ich nicht, ob der Wirkstoff noch gut ist“, stellt Rachow klar.

Auch Medikamente, die nicht streng gekühlt werden müssten, dürften nicht einfach bei 35 °C verschickt werden, so die Apothekerin. Beispielsweise seien Darmbakterien sehr hitzeempfindlich, die nach der Einnahme bestimmter Antibiotika genommen werden sollten, um die Darmflora wieder zu stärken. „Da ist dann der Preis wichtiger und entscheidender als die Sicherheit, dass das Arzneimittel sicher und funktionsfähig bleibt“, ärgert sich Rachow.

Auch beim Thema Lieferengpässe „machen sich die Versender einen schlanken Fuß“, findet Rachow. Sie habe durchaus schon Kunden bedient, die ihr Rezept zunächst an DocMorris geschickt hätten. „Und eine Woche später standen sie bei mir in der Apotheke, weil das gewünschte Arzneimittel gerade nicht zu bekommen war“, erklärt sie. Versender kümmerten sich nicht um die Lieferfähigkeit: „Sie schicken, wenn es verfügbar ist. Damit ist der Patient aber noch nicht versorgt“, sagt sie. „In der Apotheke dagegen wird nach einer Lösung gesucht, Rücksprache mit dem Arzt gehalten oder wenn möglich ausgetauscht.“ Rachow versuche auch viel mit dem PC zu lösen, aber manchmal brauche man den direkten Kontakt – „weil es kompliziert wird.“

Kaum Werbebudget

Wenigstens eine praktische Sache kann Rachow der Werbung von Günther Jauch für Shop Apotheke abgewinnen: „Ich kann den Kunden dann erklären: Sie kennen doch bestimmt die Werbung vom Herrn Jauch – genau das können wir auch! Sie können ganz entspannt genauso wie Herr Jauch online mit der App ihr Medikament bei uns bestellen.“

Denn klar ist, die Werbebudgets, die den großen ausländischen Versendern zur Verfügung stehen, hat die Inhaberin natürlich nicht. „Das kann ich als kleines regionales Unternehmen, das mit Privatvermögen haftet, nicht leisten.“ Sie macht mit Flyern in der Apotheke auf die Leistungen aufmerksam, in Monatsangeboten, die sie in der Umgebung verteilt, und natürlich auf der Webseite und ihren Social-Media-Kanälen.

Rosinenpickerei

„Der Versandhandel pickt sich die Rosinen raus und die komplizierten Sachen soll dann die Vor-Ort-Apotheke machen“, ärgert sich die Inhaberin. Das große Problem: Viele der Leistungen funktionieren nur, weil sie durch das Kerngeschäft querfinanziert werden. Wird dort weniger Umsatz generiert, geht die Mischkalkulation nicht mehr auf. „Betäubungsmittel gesondert zu lagern, macht der Versandhandel zum Beispiel auch nicht“, sagt sie.

Allein die Apotheke vorzuhalten, kostet viel: „Ein Apotheker muss da sein, der aufmacht, die ganze Software, das Internet, IT-Komponenten, verschiedene Karten für jedes Terminal und Konnektoren, die Klimaanlage, die auch gewartet werden muss, Pflichtliteratur, Notfallmedikamente, ganz viel Dokumentation, Mieten, Versicherungen und so weiter. Da kommt ganz viel zusammen – da kann man nicht dran sparen – die Kosten fressen einen regelrecht auf.“

Sie ärgert sich oft über das fehlende Verständnis der Kunden. So lohne es sich zum Beispiel nicht mehr für sie, Milchpulver in der Apotheke vorrätig zu haben, weil die meisten es lieber günstiger bei dm oder Rossmann kaufen und sich dann aber beschweren, wenn sie im Notdienst keines bekommen. Auch bei der Kosmetik fliege nach und nach vieles aus dem Sortiment. Besonders ärgerlich sei es, wenn Menschen die Produkte vor Ort testen, dann aber beim Versender bestellen. „Gefühlt sehen viele Menschen nur den Preis, aber gar nicht, was da alles dranhängt“, sagt die Apothekerin.

„Es gibt auch noch viele Menschen, die kommen gerne zu uns und freuen sich über die Beratung und sind dankbar, wenn sie sich noch einen kostenlosen Tipp holen können.“ Das bekommen sie online auch nicht. „Wir sind auch einfach für die Menschen da – für jeden Einzelnen – und jeder ist willkommen.“

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