Mitarbeitende aus dem Kundensupport von Medisign sind mittlerweile richtig verzweifelt: „Es kommt häufiger vor, dass Menschen weinen, weil sie die vielen Anrufe nicht mehr stemmen können“, sagt ein Angestellter, der anonym bleiben will. Pro Tag seien es mehr als 10.000 Anrufe, immer mit denselben Fragen. „Wann endlich die Anträge zu den HBA bearbeitet werden, beziehungsweise, wann die Karten eintreffen“, sagt er. Man könne niemanden mehr vertrösten. „Wir können nur so ehrlich wie möglich sein, ohne etwas Falsches zu sagen.“
Es passiere jeden Tag aufs Neue das gleiche Prozedere: „Die Leitungen öffnen sich ab 8 Uhr und innerhalb von wenigen Stunden rufen mehrere hundert Kundinnen und Kunden an“, schildert der Mitarbeiter, der gerne für Medisign arbeitet und deshalb lieber nicht seinen Namen nennen will. Doch es sei eine Grenze überschritten, so könne es nicht weitergehen.
Das Team sei am Limit. Momentan seien acht Mitarbeitende für mehr als 10.000 Anrufe pro Tag zuständig. „Wir halten das nicht mehr aus, mittlerweile wird regelmäßig nach den Gesprächen geweint. Es hat einen schon gebrochen“, beschreibt er die Situation im Unternehmen. Immer wieder gehe es um nicht bearbeitete Anträge, um den nicht klickbaren Button im Kundenportal oder um nicht gelieferte SMC-B-Karten. „Das alles war eigentlich von Vornherein bekannt. Es war klar, dass es einen Massenaustausch der Karten geben wird“, beklagt er.
Der Angestellte spricht ein Chaos in der Unternehmensführung an, das Inhaberinnen und Inhaber ebenfalls wahrnehmen. Fehlende Freischaltcodes und verspätete Antworten sind nur einige Beispiele.
Das System sei umgestellt worden, aber ohne, dass sich bewusst um eine sogenannte Abwärtskompatibilität gekümmert wurde. „Das bedeutet, dass auch alte Geräte mit dem Update kompatibel sein müssen. Das ist aber nicht der Fall“, erklärt er. „Es gab seit der Umstellung keine Produktionssicherheit mehr.“ Er spricht von einem „Sumpf“ der Anträge, die vor dem 5. September gestellt wurden. „Viele Inhaber und Inhaberinnen warten seit Ende Juli auf die Karten, wir können nicht sagen, wann diese fertig sind und zugestellt werden können“, stellt er klar.
Es werde momentan nur irgendwie dafür gesorgt, dass HBA getauscht würden. „Denn bei diesen Vorgängen können Forderungen gestellt werden. Da es schon seit geraumer Zeit keine Angabe mehr zu Lieferzeiten der SMC-B gibt, sagt man, dass es dann keine Verzugsfristen gebe. So heißt es, könne es keine Ersatzforderungen geben.“
Der Kundensupport verstehe jeden Anrufer, man teile das Leid, aber könne es „nicht mehr hören“, erklärt er. „Wir vertrösten auch nicht mehr, wir versuchen so ehrlich zu sein, wie es geht und passen dabei auf, dass wir nichts Falsches sagen. Aber ganz ehrlich: Man will am liebsten dazu raten, bei der Konkurrenz anzurufen.“
Von der Unternehmensleitung fühlt sich das Team ihm zufolge nicht ausreichend unterstützt. Obwohl es so chaotisch sei, würden trotzdem Anträge angenommen. „Wir verstehen das nicht und teilen unsere Sorgen auch regelmäßig in Meetings mit“, sagt er. Aber es heiße von der Geschäftsleitung nur, dass man verstanden werde. „Am Ende müssen auch wir Mitarbeitende schlafen können. So kann es nicht weitergehen. Das ist ein Hilferuf, wir wollen niemanden in die Pfanne hauen.“
Der sogenannte Vertrauensdiensteanbieter Medisign war zuletzt mehrfach in der Kritik. Die Gematik hatte unlängst ein Anhörungsverfahren gegen das Unternehmen gestartet, nachdem es zu Verzögerungen beim Kartentausch gekommen war. Hintergrund waren massive Lieferverzögerungen beim eHBA-Austausch, die für Apotheken teils betriebsgefährdend waren.
Die Gematik prüft nun Maßnahmen gegen Medisign, da der fristgerechte Kartentausch gefährdet scheint. Laut Medisign sei es nicht zu massiven Verzögerungen gekommen: „Wir verzeichnen erhebliche Fortschritte beim Austausch der eHBA“, teilte der Anbieter erst Mitte Oktober mit. Die Hälfte des Austauschs sei bereits geschafft.
Der Grund für den Austausch: Bis Jahresende muss die Telematikinfrastruktur (TI) auf neue europarechtlich geforderte Verschlüsselungsverfahren (von RSA auf ECC) umgestellt werden. Das betrifft Konnektoren, eHBA, SMC-B und weitere TI-Komponenten. Da die Zeit knapp ist, warnt die Gematik vor weiteren Lieferengpässen und rät Apotheken, umgehend ihre Karten zu prüfen und gegebenenfalls neu beantragen zu lassen.
Auch die Stimmung im Team des Kundensupports beurteilt man bei Medidisgn, trotz der „aktuell extrem hohen Auslastung“ noch als „professionell und konstruktiv“, so eine Sprecherin. „Das gesamte Team ist mit großer Motivation dabei, die enorme Anzahl an schriftlichen und telefonischen Kundenanfragen zu bearbeiten und im Einzelfall pragmatische Lösungen zu finden“, erklärt sie.
Der Anspruch allen Anrufer:innen gerecht zu werden, sei definitiv da. „Das gelingt jedoch in Peak-Phasen nicht in allen Fällen“, so die Sprecherin. „Verschiedene Faktoren haben die Anzahl an Anfragen in die Höhe schnellen lassen: zum einen die hausinterne Systemumstellung mit technischen Anlaufproblemen, zum anderen der Kartentausch aufgrund der verpflichtenden Umstellung von RSA- auf ECC-Kryptografie, der einen großen Teil unserer Kund:innen betrifft.“
Zudem habe die mediale Berichterstattung über medisign und dass der Kartentausch bis Anfang Dezember abgeschlossen sein müsse, für erhebliche Verunsicherung bei unseren Kund:innen gesorgt – resultierend in zahlreichen besorgten Nachfragen. „Wir arbeiten mit Priorisierung und erweiterten Servicezeiten daran, den entstandenen Rückstau kontinuierlich abzuarbeiten und Wartezeiten zu reduzieren“, so die Sprecherin weiter.
Zur Erreichbarkeit sagt sie: „Es gab und gibt Lastspitzen, verursacht durch die bereits genannten Faktoren. Dies führte zu stark erhöhten Kontaktversuchen in kurzen Zeitfenstern und kann den Eindruck eingeschränkter Erreichbarkeit erzeugen.“
Den massiven verzug der Bearbeitung der Anträge erklärt sie wie folgt: „Nach der Systemumstellung haben uns Anträge, die vor der Migrationsphase gestellt wurden, Probleme bereitet. Die Daten vom Altsystem mussten ins neue System migriert werden, was sich als sehr komplex und aufwändig erwiesen hat.“ Dadurch sei es bedauerlicherweise zu längeren Wartezeiten gekommen, so die Sprecherin. „Inzwischen ist die Bearbeitung dieser Anträge aber wieder möglich und wird priorisiert vorangetrieben“, betont sie.
Im Rahmen des eHBA-Sondertauschs komme es produktionsseitig zu keinen längeren Wartezeiten, so die Sprecherin weiter. „Von den knapp 40.000 eHBA 2.1, die bislang beantragt wurden, sind bereits knapp 35.000 Ausweise produziert worden. Das sind fast 90 Prozent der beantragten Karten“, stellt sie klar.