Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) hat kürzlich erneut den Streit um die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel entfacht – und auch ein Rx-Versandverbot wieder in die Diskussion gebracht. In einem Antrag fordert die Landesapothekerkammer Hessen (LAK) ein Komplettverbot und untermauert die Forderung mit drei Fallbeispielen, die die Gefährdung der Patientensicherheit sowie die Kosten für das System aufzeigen.
„Immer mehr Anbieter im Internet, oftmals mit Sitz im Ausland oder in rechtlichen Grauzonen, ermöglichen es jedem Bürger, mit wenigen Klicks ein Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente zu erhalten, teilweise sogar kostenlos oder für Beträge unter acht Euro“, heißt es im Antrag. Die Bestellung dieser Arzneimittel erfolge dann direkt beim jeweiligen verlinkten Versender – ohne pharmazeutische Betreuung oder Beratung.
Dieser Parallelweg unterlaufe die bewährte und sichere Achse Arzt-Apotheker-Patient, warnt die Kammer. Arzneimittel, die mitunter stark suchtauslösend, abhängigkeitsfördernd oder missbrauchsgefährdet seien wie etwa Tilidin, Benzodiazepine, Codein, Medizinalcannabis, Schilddrüsenpräparate und viele weitere, würden so zu frei zugänglichen Konsumgütern degradiert.
Die Antragsteller appellieren, den Schutz und die Suchtprävention wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu fordert die Kammer ein konsequentes Verbot des Versands von verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Gefahren, die der Online-Versand mit sich bringen kann, zeigen die Antragsteller in drei Fallbeispielen auf.
Im ersten Fall der Kammer geht es um ein minderjähriges Mädchen mit einer Essstörung: „Ein 16-jähriges Mädchen mit diagnostizierter Anorexia nervosa und einem Body-Mass-Index (BMI) von 16 recherchiert im Internet nach ‚Appetitzüglern‘. Bereits nach wenigen Klicks stößt sie auf eine Website, die mit medizinischer Seriosität wirbt und rezeptpflichtige Medikamente wie Ozempic (Semaglutid, Novo Nordisk) oder andere off-label verwendete Arzneimittel zur Gewichtsreduktion anbietet.“
Ohne persönliche ärztliche Untersuchung kann sie online ein Formular ausfüllen, innerhalb eines Tages erhält sie ein E-Rezept und kann das Medikament direkt online bestellen. Es gibt keine Kontrolle, keine Beratung, keine Aufklärung – und damit auch keinen Schutz. Die Medikamente werden diskret verpackt nach Hause geliefert.
Die Folgen können dabei schwerwiegend sein: von schweren Nebenwirkungen, Unterzuckerung, Kreislaufversagen bis hin zu langfristigen Organschäden. Im Szenario erlitt das Mädchen schwere Komplikationen, musste notfallmäßig stationär aufgenommen werden und befindet sich seither in einem kritischen, lebensbedrohlichen Zustand.
Auch für das System entstünden hier hohe Zusatzkosten: Die Kammer rechnet mit circa 3500 Euro für eine Woche Klinikaufenthalt, rund 14.000 Euro für vier Wochen. Der Umsatz der ausländischen Versender sei dagegen verschwindend gering: 104,41 Euro für Ozempic und 8 Euro für das E-Rezept sind in Summe gerade einmal 112,41 Euro.
Im zweiten Beispiel bestellt sich ein 13-jähriger Jugendlicher über eine Online-Plattform ein Rezept für codeinhaltigen Hustensaft. Laut Angaben der Kammer wird er über die Plattform, die das Rezept ausstellt, auf die Seite eines angeblichen Händlers weitergeleitet. Dort kann der Minderjährige das Präparat für weniger als 20 Euro bestellen. Liefern lässt er es sich an eine Packstation. Auch hier findet keinerlei Kontrolle, Beratung oder Aufklärung über Wechselwirkungen statt.
Im Fallbeispiel mischt der Teenager den Saft mit Limonade. Nach dem Konsum erleidet er eine schwere Atemdepression, muss reanimiert werden und liegt anschließend eine Woche lang im künstlichen Koma auf der Intensivstation.
Auch hier summierten sich die Kosten für das Gesundheitssystem auf über 21.000 Euro, der Gewinn der Versender addiere sich gerade einmal zu 23 Euro.
Seit der Teillegalisierung von Cannabis wird auf vielen Plattformen für Medizinalcannabis geworben – oft auch gleich mit der Online-Ausstellung eines Rezepts. Im dritten Beispiel der LAK Hessen will sich ein Erwachsener online ein Privatrezept besorgen. Dazu muss er auf einer Plattform ein Formular ausfüllen, einige Symptome in einer angebotenen Liste auswählen und bekommt nach wenigen Minuten ein Privatrezept mit Stempel und Unterschrift eines ausländischen, angeblichen Arztes – ohne persönliche Konsultation, ohne Diagnose, ohne Rückfragen. Wie in den vorherigen Szenarien erfolgt die Bestellung auch hier online. Das Paket erhält er am kommenden Tag und im Szenario der Kammer sogar ohne Ausweiskontrolle.
Die LAK Hessen weist auf die strukturellen Probleme hin: „Internationale Rezeptausstellung ohne medizinische Prüfung, kombiniert mit fehlender Lieferkontrolle – das öffnet nicht nur Missbrauch Tür und Tor, sondern umgeht auch jede gesetzliche Vorgabe zur Abgabe und Dokumentation von ehemals Betäubungsmitteln.“
Diese Beispielszenarien zeigen laut Kammer klar, welche Risiken der Rx-Versand haben kann. „Der Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln entzieht sich zunehmend der pharmazeutischen, ärztlichen und gesellschaftlichen Kontrolle. Was ursprünglich als Modell für mehr Versorgung gedacht war, hat sich in Teilen zu einem gefährlichen Einfallstor für Arzneimittelmissbrauch, Suchtverlagerung und Selbstgefährdung entwickelt.“
Effektive Möglichkeiten, unseriöse oder sogar rechtswidrige Angebote im Internet zu unterbinden, gebe es keine. Seitens der zuständigen Behörden fehle es sowohl an einer Verfolgungsstrategie als auch an effektiven Kontroll- und Reaktionsmöglichkeiten, kritisieren die Antragssteller. Das gelte insbesondere, wenn die Anbieter im Ausland säßen.
„Ein konsequentes Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist daher dringend geboten – zum Schutz unserer Kinder und Jugendlichen, zur Wahrung der öffentlichen Gesundheit, und zur Wiederherstellung der Verantwortungskette zwischen Arzt, Apotheker und Patient sowie den Schutz unseres Gesundheitssystems vor immensen Folgekosten“, stellt die Kammer klar. Mit einem Rx-Versandverbot stünde Deutschland keinesfalls alleine da: In 20 von 27 EU-Staaten sei der Versand verschreibungspflichtiger Arzneimittel aktuell untersagt.
Laut Grundgesetz habe der Staat eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern, betont die Kammer. Insbesondere vulnerable Gruppen wie Minderjährige bedürften eines besonderen Schutzes. „Ein unkontrollierter Zugang zu verschreibungspflichtigen Medikamenten über den Versandhandel kann dieser Schutzpflicht zuwiderlaufen.“
Wirtschaftliche Interessen dürften unter keinen Umständen Vorrang vor dem Schutz der öffentlichen Gesundheit haben. Als Negativbeispiel führt die Kammer die Opioidkrise in den USA an. Dort sei der Umgang mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zunehmend liberalisiert worden. Das habe zu zehntausenden Todesopfern jährlich, millionenfacher Abhängigkeit und einem Gesundheitssystem am Rande der Belastbarkeit geführt.
Über den Antrag entscheiden die Delegierten beim Deutschen Apothekertag (DAT) Mitte September in Düsseldorf.