Abgerissene Finger oder Hände, schwerste Verbrennungen im Gesicht, zerstörte Augen. Was Ärzte in der Silvesternacht auf den OP-Tisch bekommen, kennen sie eigentlich nur aus der Kriegschirurgie. „Es sind Verletzungen, wie sie an der Front in der Ukraine passieren. Wir wissen, wie sie aussehen, da wir hier ukrainische Soldaten interdisziplinär versorgen“, sagt Professor Dr. Adrian Dragu, Direktor der Abteilung für Plastische und Handchirurgie am Universitätsklinikum Dresden.
2024 kamen in Deutschland zu Silvester fünf Menschen bei Unfällen mit Böllern ums Leben – zwei davon in Sachsen. Ihnen wurden sogenannte Kugelbomben zum Verhängnis. „Jede Explosion geht mit Hitze und einer Verbrennung einher“, beschreibt Oberarzt Dr. Tim Fülling ein spezifisches Problem. Die Verletzungen erfolgen dem Mediziner zufolge de facto stufenweise: „Erst kommt die Druckwelle, dann die Hitze.“ Deshalb müsse man zum Jahreswechsel oft andere komplexe chirurgische Techniken anwenden als im normalen Klinikalltag.
Bis zu 30 Patienten mit solchen Verletzungen müssen Ärzte im Dresdner Uniklinikum jedes Jahr in den Tagen um Silvester versorgen. Dann sind sie auf etwas angewiesen, was gleichfalls aus der Militär- und Katastrophenmedizin stammt: Triage – die Auswahl von Patienten nach Schwere der Verletzung und Dringlichkeit, weil zu viele in der Notaufnahme landen. Fülling: „Wir müssen dann entscheiden, welche Verletzung wir in welcher Reihenfolge versorgen.“
Manchmal haben Patienten Verletzungen an Händen und im Gesicht – an den Stellen, die nicht durch Bekleidung geschützt sind. Vor allem alkoholisierte Männer im Alter unter 25 Jahren sind betroffen. Auch Kinder sind die Leidtragenden, etwa wenn sie in den Tagen nach dem Jahreswechsel mit Blindgängern spielen. Nicht selten passieren Unfälle mit selbstgebastelter Pyrotechnik. In den vergangenen Jahren habe es mehrere Patienten gegeben, die sich dabei die ganze Hand wegsprengten, sagt Fülling.
Bis heute behandelt der Oberarzt einen Mann, der 2024 durch einen Böller mehrere Finger verlor – allerdings nicht am Silvestertag. Er hatte mit Kugelbomben Wühlmäuse in seinem Garten in die Luft jagen wollen. Jetzt werden ihm Prothesen angepasst. In den meisten Fällen lassen sich abgetrennte Gliedmaßen wieder annähen, wenngleich die Funktionsfähigkeit in der Regel danach eingeschränkt bleibt.
Am besten lassen sich Replantationen – das chirurgische Wiederanfügen amputierter Extremitäten oder Gewebeteile – vornehmen, wenn man es mit einer glatten Durchtrennung ohne größere Schäden am Gewebe zu tun habe, erklärt Fülling. „Das ist der Idealfall. Aber bei Explosionen geht häufig Gewebe verloren oder es ist an der Wunde verbrannt.“ Mitunter müsse man dann aus anderen Körperregionen Gewebe verpflanzen.
Eine Explosionsverletzung sei komplex, weil der Arzt das gesamte Spektrum von der Mikrochirurgie bis zur Knochenchirurgie beherrschen muss, betont Fülling. Zudem sei die Verunreinigung der Wunden eine große Herausforderung. Normalerweise komme der Patient nicht mit einer „sauberen“ Wunde ins Krankenhaus. „Unsere größte Sorge ist eine Infektion. Auch das kennen wir aus der Kriegschirurgie.“
Mit Replantationen hat Professor Dr. Ramin Khoramnia, Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde, kaum zu tun. „Wenn das Auge nicht mehr in der Augenhöhle ist, kann es nicht einfach wieder „eingesetzt“ werden.“ Der Professor räumt ein, dass Silvester die schlimmste Nacht für ihn und seine Kollegen ist. Die Verletzungen könnten sehr verschieden sein – von leichten Verbrennungen bis zu einem komplett zerstörten Organ, etwa wenn eine Rakete direkt vor dem Auge explodiert. In mehr als der Hälfte der Fälle seien Leute betroffen, die gar nicht selbst gezündelt hätten, oftmals leider auch Kinder.
„Beim ersten Eingriff müssen wir die Wunde verschließen, damit keine Erreger hineinkommen“, sagt Khoramnia. Um Sehschärfe oder Wiederherstellung des Sehvermögens könne man sich erst in einem Folgeeingriff kümmern. „Zunächst muss das Auge als Organ erhalten werden.“ Wenn die Wunde abgeheilt sei, erfolge in der Regel ein paar Wochen später ein weiterer Eingriff. Dann gehe es darum, so viele Funktionen wie möglich zu erhalten.
Auch in Chemnitz zeigt sich Jahr für Jahr der gleiche Ausnahmezustand. „Am Silvestertag haben wir oft noch relativ wenig Patienten, aber in der Nacht nach Mitternacht kommen die Massen“, sagt Dr. Thomas Baitz, leitender Oberarzt am Klinikum Chemnitz. Während an einem normalen Tag rund 80 Patienten in die Notaufnahme kämen, seien es am Neujahrstag regelmäßig rund 120 – ein Plus von bis zu 40 Prozent.
Besonders auffällig seien Verletzungen, die sonst kaum eine Rolle spielten. „Frakturen des Schädels und Gesichtsknochen sowie Amputationen an Hand und Handgelenk sind an Silvester plötzlich in den Top-Diagnosen“, sagt Baitz. Häufig komme Alkohol hinzu: „Eine ganz tückische Kombination mit Feuerwerk.“
Auch schwere Augenverletzungen spielen in Chemnitz dem Oberarzt zufolge eine große Rolle. In der Silvesternacht müssten regelmäßig mehrere Menschen wegen Augenverletzungen stationär aufgenommen werden. „Das ist sonst extrem selten“, sagt Baitz.
Die schwersten Fälle bleiben dem Team lange im Gedächtnis. „Das habe ich noch nie gesehen – zwei fast abgesprengte Hände“, erinnert sich Baitz an einen Jahreswechsel. Solche Verletzungen kämen im normalen Klinikalltag praktisch nicht vor.
Ähnliche Erfahrungen macht das Universitätsklinikum Leipzig. Auch hier liegt das Patientenaufkommen in der Zentralen Notaufnahme am Neujahrstag regelmäßig rund 40 Prozent höher als an Silvester oder an einem normalen Dezember-Wochenende. Zum Jahreswechsel 2024/25 entsprach das einem Plus von 142 Patientinnen und Patienten.
Rund um den Jahreswechsel 2024/25 wurden in Leipzig erneut zahlreiche Menschen mit Feuerwerksverletzungen behandelt, darunter mehrere mit schweren Handverletzungen. Unter den stationär Versorgten befand sich ein achtjähriger Junge, dem ein Blindgänger mehrere Finger abriss.
Wie gravierend die Folgen sein können, zeigt eine Auswertung des Uniklinikums Leipzig über zehn Jahreswechsel hinweg: Fast die Hälfte der Verletzten behielt dauerhafte Funktionseinbußen, knapp ein Viertel musste operiert werden. Am häufigsten betroffen waren die Hände.
Dem Dresdner Handchirurgen Dragu zufolge kommt es nach einem Unfall mit Pyrotechnik darauf an, schnell zu handeln und strukturiert vorzugehen. Gerade bei alkoholisierten Patienten sei das nicht einfach. Zeugen sollten bei einer leichten Verletzung Erste-Hilfe-Maßnahmen wie die stabile Seitenlage leisten. In schweren Fällen müsse der Betroffene aber sofort ins Krankenhaus. Dragu rät dazu, abgetrennte Finger in sterilen Tüten und gekühlt zu transportieren – aber keinesfalls auf Eis. Ein tiefgefrorener Finger sei biologisch zerstört.
Die drei Mediziner sind für ein striktes Böllerverbot. „Wir reden über explodierende Kosten im Gesundheitswesen, Ressourcenknappheit in der Pflege. Und dann erlauben wir uns als Gesellschaft, an wenigen Tagen im Jahr das Gesundheitswesen an seine Grenzen zu bringen und in die Ecke zu treiben, weil Böller frei verkauft werden. Das erschließt sich mir nicht“, sagt Dragu. „Es gilt in erster Linie auch Unbeteiligte zu schützen“, ergänzt Khoramnia.
Dragu, Fülling und Khoramnia plädieren dafür, sich andere Länder als Vorbild zu nehmen und ein zentrales Feuerwerk zu zünden oder mit Laser- oder Drohnenshows das neue Jahr einzuleiten. Bei einem Profi-Feuerwerk gehe das Risiko gegen null, meint Khoramnia. Dass jeder zwei Tage lange in Deutschland böllern könne, sei aus ökologischer, finanzieller und gesundheitspolitischer Sicht einfach absurd, fast Dragu die Diagnose der Mediziner zusammen.
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