Selbstmedikation

„OTC-Kritik nicht Glaeske überlassen“

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Berlin -

Als Dr. Kerstin Kemmritz auf dem Deutschen Apothekertag (DAT) in München mehr Evidenz in der Selbstmedikation forderte, war die Zustimmung groß: Ihr Antrag, den Apothekern wissenschaftliche Daten zu den am häufigsten abgegebenen OTC-Arzneimitteln zur Verfügung zu stellen, wurde mit deutlicher Mehrheit angenommen. Doch die ABDA will eine solche Datenbank nicht finanzieren – aus Sicht von Kemmritz ein „Armutszeugnis für die Apothekerschaft“.

Kemmritz hatte den Antrag 2014 zusammen mit einigen Kollegen vom Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) gestellt. Sie sah die Apotheker in einem Dilemma: Sie sollten laut Perspektivpapier 2030 evidenzbasiert beraten – dafür fehle ihnen aber die Datenbasis. Kemmritz wollte erreichen, dass die Evidenz zu Nutzen und Schaden gängiger OTC-Arzneimittel aufgearbeitet und den Apothekern in praxistauglicher Form zugänglich gemacht wird. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) sah sie als geeignete Stelle.

Der Antrag wurde angenommen und von den ABDA-Gremien diskutiert. Dort kam man zu dem Schluss, dass zu Lasten des Berufsstandes keine eigene Datenbank erarbeitet und gepflegt werden soll. Auch bei der AMK sah man die Aufgabe nicht. Stattdessen denkt die ABDA über einen regelmäßigen Newsletter und eine Datenbank mit Kasuistiken nach. In dieses Register sollten Nutzer Fälle aus der Beratungspraxis eintragen können.

Damit will sich Kemmritz nicht zufrieden geben. In einem offenen Brief an ABDA-Präsident Friedemann Schmidt kritisiert sie gemeinsam mit VdPP-Vorstand Viktoria Mühlbauer das Vorgehen der Standesvertretung. Von dem Grundgedanken des Antrags, die Evidenzlage aufarbeiten zu lassen und den Apothekern alltagstauglich zugänglich zu machen, sei „nichts mehr zu erkennen“. Eine offizielle Antwort steht laut Kemmritz zwar noch aus, aber das Thema sei bei der ABDA angekommen.

Aus Sicht von Kemmritz ist vielen Kollegen noch nicht ganz klar, was man unter der Evidenz im angelsächsischen Sinn versteht. Dafür hat sie durchaus Verständnis: „Auch ich war früher ein massiver Gegner der Forderung nach mehr Evidenz – bis mir erklärt wurde, wie es zu verstehen ist“, sagt sie heute. Dabei gehe es nämlich nicht um eine weitere Zulassungshürde, sondern wissenschaftliche Qualitätsmerkmale und Anwendungsdaten – etwa zur Anwendung von Ambroxol bei anderen Erkrankungen oder dem Nutzen von Zink oder Vitamin C.

Kemmritz sieht noch viel Aufklärungsbedarf im Berufsstand. Dafür seien Fortbildungen, Newsletter und Kasuistik-Datenbanken durchaus hilfreich – sie sollten jedoch nicht die offizielle Informationsbasis eines ganzen Berufsstandes sein. „Die Evidenz sollte in den Apotheken einfacher umgesetzt werden können, bestenfalls mithilfe der ABDA-Datenbank“, findet sie.

Grundsätzliche Bedenken äußern Kemmritz und Mühlbauer gegen den Vorschlag, den Govi-Verlag einzubinden. „Als Herausgeber der Pharmazeutischen Zeitung, die sich über Werbung der pharmazeutischen Industrie zu OTC-Produkten mitfinanziert, hat er erhebliche Interessenkonflikte“, finden die Apothekerinnen.

Auch die Kasuistik-Datenbank ist aus ihrer Sicht keine Lösung. „Sie wäre geradezu das genaue Gegenteil von evidenzbasierter Arbeit“, monieren Kemmritz und Mühlbauer. Um die Evidenzlage zu einer bestimmten Frage aufzuarbeiten, seien methodische Kenntnisse und systematisches Arbeiten notwendig. Beides werde im Pharmaziestudium nicht ausreichend vermittelt und sei im Apothekenalltag ohnehin nicht leistbar. Es müsse daher bezweifelt werden, dass eine von Nutzern bestückte Datenbank das erforderliche wissenschaftliche Qualitätsniveau erreiche.

Kemmritz und Mühlbauer räumen ein, dass es sich bei ihrem Vorschlag um ein Langzeitprojekt handelt, das ohne finanzielle Mittel nicht zu realisieren sei. Trotzdem sollte es ihrer Meinung nach in Angriff genommen werden, um so ein deutliches Signal zu senden, wie ernst es der Apothekerschaft mit der evidenzbasierten Pharmazie sei. „Es ist wichtig, dass wir das Thema offiziell in die Hand nehmen und nicht dem VdPP und Professor Glaeske überlassen“, sagt Kemmritz.

„Immer wieder in der Öffentlichkeit erhobene Angriffe gegen die Qualität der Beratung sollten vom Berufsstand sehr ernst genommen werden“, schreiben die Apothekerinnen. Denn wer das Expertentum auf diesem Gebiet aus der Hand gebe, brauche sich nicht zu wundern, wenn Apotheker im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung verlören. Zudem sei Evidenz in der Selbstmedikation ein Thema, mit dem man auch in der Öffentlichkeit punkten könne, so Kemmritz.

Den aus ihrer Sicht nötigen Kampfgeist vermissen Kemmritz und Mühlbauer: „Die momentan angedachte Umsetzung lässt jedoch nur den Schluss zu, dass in der ABDA der politische Wille zu einer konsequenten Evidenzbasierung fehlt“, schreiben sie. Deshalb fordern sie Schmidt auf, gemeinsam mit ihnen über das Thema und seine Umsetzung zu diskutieren und „nicht irgendetwas zu tun, sondern die Zielsetzung des Antrags zu verfolgen“.

Auch VdPP-Vorstandsmitglied Florian Schulze kritisiert die mangelnde Umsetzung des Antrags. Ein Berufsstand, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit Augenhöhe mit der Ärzteschaft einfordere und sich gleichzeitig weigere, ein Minimum an klinischer Wissenschaft zu implementieren, sende inkohärente Signale an die Politik. Praxistaugliche Hilfestellungen seien „kein Sahnehäubchen, sondern das Fundament der heilberuflichen Arbeit“, erklärt er im Rundschreiben des Verbands.

„Mitglieder eines akademischen, naturwissenschaftlichen Berufs, die die Anwendung elementarer wissenschaftlicher Kriterien als Bedrohung der freien Berufsausübung empfinden, verhalten sich schlicht anachronistisch“, findet Schulze. Wenn die Apotheker ihr ureigensten Aufgaben „mit einer derartigen Nachlässigkeit“ angingen, müsse man sich nicht wundern, wenn man im E-Health-Gesetz praktisch nicht vorkomme.

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