4 Millionen Betroffene in Deutschland

Seltene Erkrankungen: Diagnose kann Jahre dauern

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Trier/Homburg -

Die Zahl der erfassten seltenen Erkrankungen steigt stetig. Doch die Diagnose kann sich über Jahre hinziehen und für Betroffene äußerst belastend sein, wie ein aktueller Fall aus Trier zeigt.

Vor rund zehn Jahren begann es: Bernward Wittschier spürte Taubheit in Fingern, Zehen und Gesicht. Alles schmeckte nur noch salzig. Heute reicht das Taubheitsgefühl von der Stirn bis in die Schultern. „Es ist, wie wenn man zehn Betäubungsspritzen beim Zahnarzt bekommt und die Wirkung nie nachlässt“, sagt der 63-Jährige aus Trier. Sprechen und Schlucken fallen ihm schwer: „Ich verschlucke mich 30- bis 40-mal am Tag.“ Seine größte Angst: dass die Krankheit weiter fortschreitet.

„Mir kann kein Arzt helfen.“ Nach zahllosen Untersuchungen – vom Hausarzt bis zum Spezialisten – wandte er sich ans Zentrum für seltene Erkrankungen in Homburg. Doch auch nach mehreren neurologischen Klinikaufenthalten bleibt die Ursache unklar. „Ich bin ratlos und auch ein Stück weit verzweifelt.“

Langwierige Diagnostik

Die schwierige und langwierige Suche nach einer Diagnose ist den Expert:innen in Homburg bekannt. „Im Schnitt kann das bis zu fünf Jahre dauern“, sagte Geschäftsführerin Katarzyna Rososinska. In Extremfällen dauere es Jahrzehnten. Oft gebe es Fehldiagnosen, und manchmal stoße man „diagnostisch einfach an Grenzen“.

Am 28. Februar ist Tag der seltenen Erkrankungen. In Schaltjahren fällt er auf den 29. Februar. Eine seltene Erkrankung betrifft bis zu 5 von 10.000 Menschen, erklärte Rososinska. In Europa gibt es rund 30 Millionen Betroffene, in Deutschland etwa 4 Millionen. Noch seltener sind Erkrankungen mit weniger als 2 Fällen pro 100.000 Einwohnern.

Inzwischen sind rund 8000 seltene Erkrankungen bekannt – Tendenz steigend. Der Grund: Fortschritte in der genetischen Diagnostik und ein wachsendes Interesse, auch auf politischer Ebene. Bundesweit gibt es 36 Zentren für seltene Erkrankungen, die eng vernetzt sind. „Es gibt auch Fälle, die man weiterverweist, weil Experten bekannt sind“, so Rososinska.

Zentrum für seltene Erkrankungen in Homburg

An das Zentrum in Homburg wenden sich Patient:innen, die bei der Diagnose nicht weiterkommen, erklärte Sprecher Robert Bals. Nach Sichtung der Unterlagen werden Verdachtsfälle mit Fachkollegen besprochen und an Neurologie, Orthopädie oder andere Fachbereiche verteilt.

Rund 70 Anfragen erreichen das Zentrum pro Jahr. In einem Drittel der Fälle kann eine Diagnose gestellt werden. Bei den übrigen stellt sich heraus, dass keine seltene Erkrankung vorliegt – oder die Diagnose bleibt unklar. Die Patient:innen kommen aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Luxemburg. In Spezialambulanzen werden jährlich viele bereits diagnostizierte Fälle betreut, stationär sind es etwa 3000.

Herausfordernde Behandlung

Für seltene Erkrankungen gibt es oft kaum Therapien, weil die Fallzahlen so gering sind, sagte Bals. Nur drei Prozent haben in Deutschland zugelassene Medikamente. Rososinska rät Betroffenen, „dranzubleiben“. Neue Symptome könnten später zur Klärung beitragen – sie habe solche Fälle erlebt.

Bernward Wittschier hat nach Jahren der Suche kaum noch Hoffnung. „Ich habe alle Untersuchungen zigmal gemacht“, sagte er. Lumbalpunktion, MRT, Nerventests. „Man hatte bei mir schon so viele Verdachtsdiagnosen: Gehirntumor, Alzheimer, Multiple Sklerose. War aber alles nichts.“ Auch Spritzen, Cortison und Homöopathie hätten nicht geholfen.

Hoffnung auf eine Antwort

Ein Gehirnspezialist sagte ihm: „Herr Wittschier, dass Sie eine deutliche Erkrankung haben, kann ich feststellen. Sie sind wahrscheinlich einer von 10, 20 oder 30 Leuten in Deutschland, die so etwas haben. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wo sie herkommt.“

Seit 2006 setzt sich die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für eine bessere Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen ein. Der Fokus liegt auf Forschung, da oft Behandlungsansätze und Medikamente fehlen. Viele Erkrankungen sind genetisch bedingt, 70 Prozent beginnen im Kindesalter. Experten schätzen, dass jedes Jahr bis zu 250 neue seltene Erkrankungen entdeckt werden.

Wittschier hofft, dass irgendwann jemand erkennt, woran er leidet. „Oder wenigstens eine Ahnung oder Idee hat, was es sein könnte.“ Sein größter Wunsch: „Einen Tag mal wieder ganz normal zu erleben wie vor 20 Jahren. An dem ich alles spüre und schmecke.“

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