Schweiz

Medikamententests an Psychiatriepatienten

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Berlin -

Alle zehn psychiatrischen Kliniken in der Schweiz haben in den 50er- bis 70er Jahren an mindestens 4200 Patienten Tests von noch nicht zugelassenen Wirkstoffen durchgeführt. Die Präparate kamen unter anderem von Roche und Geigy (heute Novartis). Dabei kamen Menschen zu Tode, zeigen Recherchen des Schweizer Fernsehens SRF.

In den 1950er Jahren tauchten die ersten Psychopharmaka auch auf dem Schweizer Markt auf. Der Pharmaindustrie sei es wichtig gewesen, die Wirkstoffe in so vielen Kliniken wie möglich zu testen, sagte der Historiker Dr. Urs Germann dem SRF-Magazin „Schweiz Aktuell“. In der Regel seien die Präparate den Ärzten gratis zur Verfügung gestellt worden, im Gegenzug lieferten die Kliniken die Ergebnisse. Historikern gilt es als gesichert, dass die Patienten nicht in jedem Fall über die Gefahren ins Bild gesetzt wurden, auch eine Einwilligung wurde nicht immer eingeholt. Gesetze zum Schutz von Patienten gab es damals noch nicht.

So wurden 1966 an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich 49 Patienten mit dem noch nicht zugelassenen Doxepin behandelt. Der Wirkstoff findet heute Anwendung als Antidepressivum und in der Suchttherapie, vor allem bei Opiatabhängigen. Parallel wurde Doxepin auch an den vier anderen Unikliniken an insgesamt 130 schizophrenen und depressiven Patienten im Alter von 10 bis 89 Jahren getestet. Das unter dem Namen „MF 10“ firmierende Versuchspräparat kam von einem nicht genannten deutschen Hersteller. 34 verschiedene Nebenwirkungen wurden damals protokolliert, von Schwindel, Hypertonie bis hin zu Halluzinationen und zum Kollaps.

Zu fünf Todesfällen kam es 1954 und 1955 an der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen. Hier wurde das Medikament „G 22150“ eingesetzt. Wirkstoff und Hersteller nennt der Fernsehbericht nicht. Die Todesursache wurde nicht vermerkt.

Im Jahr 1958 wurden 41 Fraquen und 16 Männer an der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Münsingen mit dem Roche-Medikament Marsilid (Iproniazid) behandelt. Vielen depressiven Patienten sei es besser gegangen. Bei drei Probanden habe der Test wegen Nebenwirkungen jedoch abgebrochen werden müssen. Ein 79-jähriger Patient verstarb 1958 nach einer Lungenentzündung: „Exitus an Herzversagen“, verzeichnete der Arzt in der Akte.

Wie viele Medikamente die Basler Pharmaindustrie in den drei Jahrzehnten getestet habe, sei nicht bekannt, so der SRF. „Die historische Datenlage in unseren Archiven ist unvollständig“, wird Novartis zitiert. „Aufgrund der uns derzeit vorliegenden Informationen lässt sich daher leider keine verlässliche Aussage zur Anzahl klinischer Studien in der Schweiz im angefragten Zeitraum machen.“ Roche antwortete auf Anfrage ähnlich: „Wie viele Wirkstoffe in klinischen Studien in der Schweiz zwischen 1950 und 1980 geprüft wurden, können wir ihnen nicht sagen.“

In den Kliniken von Münsterlingen und Zürich werden die Archive derzeit nach Unterlagen zu Medikamententests durchforstet. Die Universität Bern hat eine Dissertation zum Thema in Auftrag gegeben. Es könne durchaus möglich sein, dass die Zahl der jetzt bekannten 4200 Patienten noch übertroffen werde. Bereits jetzt sei klar, dass die meisten der damals getesteten Wirkstoffe mittlerweile zugelassen und heute im Handel erhältlich seien.

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