Rezeptdaten

Angriff aus Hamburg

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Berlin -

Die Debatte um die korrekte Verwertung von Rezeptdaten wird für die Apotheker zum öffentlichen Fiasko: Sie stehen als „Datendealer“ am Pranger, weil Datenschützer und Rechenzentren darüber streiten, wie die Vorschriften richtig auszulegen sind. Eine bestenfalls unglückliche Rolle spielt in dem ganzen Geschehen Dr. Jörn Graue, Chef des Norddeutschen Apothekenrechenzentrums (NARZ) und Vorsitzender des Hamburger Apothekervereins.

Beim Sommerempfang der Hamburger Apotheker verlor Graue in der vergangenen Woche nur ein paar Worte zur aktuellen politischen Lage, um dann zu einem Thema überzugehen, das er seit Monaten vor sich hertreibt: Von illegalen Datengeschäften war die Rede, vom „Leviathan unserer Zeit“. Man konnte Graue schwerlich folgen, wenn man nicht wusste, welcher Beitrag in der Spiegel-Redaktion ein paar Kilometer entfernt gerade vorbereitet wurde.

Der Bericht platzte mitten in ein Verfahren, das Graue als Chef des NARZ vor dem Landgericht Frankfurt gegen IMS Health und Insight Health führt. Dabei geht es um gekürzten Zahlungen der Marktforschungsfirmen für die abgespeckten Datenlieferungen aus dem Norden.

Graue hatte als erster reagiert, als Zweifel am korrekten Umgang mit den Rezeptdaten aufgekommen waren. In Abstimmung mit der Bremer Datenschützerin hatte das NARZ ein neues Format entwickelt und liefert seitdem nur noch vollständig anonymisierte beziehungsweise aggregierte Daten.

Da diese Informationen für die Marktforschung von deutlich geringerem Wert sind, muss das NARZ auf Millioneneinnahmen verzichten. Graue hat selbst öffentlich erklärt, dass er damit gegenüber der Konkurrenz im Nachteil ist. Abseits der Fachfragen sind die Unternehmen auch Konkurrenten und machen sich – Gebietsaufteilung hin oder her – in einigen Regionen die Marktanteile strittig.

Der Unterschied: Anders als in Bremen und Berlin haben die Datenschützer in Bayern und Hessen jeweils kein Problem mit der Arbeit der Rechenzentren VSA und ARZ Darmstadt. Das ARZ Haan streitet in Nordrhein-Westfalen noch mit der Aufsicht, hier kommt es vermutlich zur ersten gerichtlichen Klärung überhaupt.

Gerade weil das Thema sensibel ist und die Meinungen auseinander gehen, ist Öffentlichkeit gut für Graue – auch wenn sie schlecht für die Apotheker ist. Kommt es aufgrund der öffentlichen Debatte zu einem weitreichenden Datenweitergabeverbot, wäre der Wettstreit der Rechenzentren wieder ausgeglichen. Auch einer anhängigen Schadenersatzklage von IMS gegen das NARZ wäre damit der Boden unter den Füßen entzogen.

Er werde nicht zulassen, dass seine Kollegen in den Tageszeitungen mit der Überschrift „Der Apotheker als Datendealer“ konfrontiert würden, versprach Graue bei der NARZ-Mitgliederversammlung Ende Juni in Hamburg. „Pillendreher als Datendealer“, titelte dann der Spiegel.

Böse Zungen sagen Graue nach, die Berichterstattung zum Thema angezettelt zu haben. Er streitet das ab, will sich ansonsten aber nicht zur Sache äußern.

Schon als der Spiegel das Thema vor anderthalb Jahren unter dem Titel „Kartell der Hehler“ zum ersten Mal aufgriff, kam das NARZ vergleichsweise gut weg. Graue wusste um die Sprengkraft des Themas und hatte sich vorbereitet. Die anderen Rechenzentren fühlten sich von der Abwehrbewegung ihres Kollegen aus dem Norden angegriffen. Jetzt taucht Graue sogar als weißer beziehungsweise weißhaariger Ritter auf, der sich allein gegen die kriminellen Machenschaften stellt.

Dass der vermeintlich rechtswidrige Umgang mit Rezeptdaten überhaupt zum öffentlichen Thema wurde, geht auf Claus Wippich zurück. Der Chef der Retaxfirma Inter-Forum aus Leipzig war Ende der 1990er-Jahre als externer Mitarbeiter für die VSA sowie deren Tochterfirmen GFD und GfS tätig. Nach seinem Abgang hatte er das Datenthema zum ersten Mal aufs Tapet gebracht und sich bei der Barmer über den angeblichen Missbrauch von Versichertendaten beschwert. Doch die Krankenkasse teilte ihm mit, dass es aus ihrer Sicht keine Anhaltspunkte dafür gebe. Das war im Oktober 2011.

Daraufhin wandte sich Wippich nicht nur an das Bundesversicherungsamt, sondern nahm auch Kontakt zu Graue auf. Die beiden trafen sich am 2. Dezember 2011 in Hamburg. Danach gab es kein Halten mehr: In seiner Rolle als GKV-Versicherter stellte Wippich selbst sieben Strafanzeigen – gegen die VSA und die an der Rezeptverarbeitung angesiedelten Firmen, aber auch gegen das Marktforschungsunternehmen Insight Health.

Der Tipp, die Presse einzuschalten, kam übrigens von Dr. Thilo Weichert, dem Datenschutzbeauftragten von Schleswig-Holstein. Der ist zwar in der Sache nicht zuständig, aber der mit Abstand medienwirksamste Datenschützer. Von seinem für die VSA zuständigen Kollegen aus Bayern, Thomas Kranig, musste sich Weichert gestern erstmals in die Schranken weisen lassen.

Beim NARZ kam es wegen Wippich vor einigen Monaten zum Eklat: Graue hatte ihm am Vorstand vorbei einen Beraterposten im NARZ verschafft. Später wurde der Vertrag per Vorstandsbeschluss wieder aufgehoben.

Der radikale Kurs des Vorsitzenden und dessen Folgen ist im NARZ nicht unumstritten: Mehrere Vorstände distanzieren sich mehr oder weniger öffentlich, der Landesapothekerverband Sachsen-Anhalt hat sich komplett aus der Führung des Rechenzentrums zurückgezogen.

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