Wachsende Offenheit für Videosprechstune, E-Rezept & Co.

Durchbruch da? Bitkom vermeldet enormes Wachstum bei Telemedizin Tobias Lau, 09.07.2020 14:05 Uhr

„Sensationelle Werte“: Biktom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder zeigt sich zufrieden mit dem Wachstum der Telemedizin. Foto: Bitkom
Berlin - 

Wo bleibt er denn nun, der große Durchbruch der Telemedizin? Anfang Mai kam der EPatient Survey noch zu ernüchternden Ergebnissen, IQVIA veröffentlichte zwischenzeitlich Zahlen, die etwas besser, aber immer noch nicht berauschend waren. Am Donnerstag stellte nun der Branchenverband Bitkom die Ergebnisse zweier druckfrischer Studien vor – und die zeigen, dass sich in den zurückliegenden Corona-Wochen anscheinend erstaunlich viel getan hat. Neben einer großen Offenheit für E-Rezept und elektronische Patientenakte ist demnach vor allem die Telemedizin durch die Decke gegangen. „Das sind Steigerungsraten, wie wir sie bei so komplexen Anwendungen, die auch den persönlichen Bereich betreffen, noch nie gemessen haben“, sagt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder.

Ziemlich genau zwei Monate ist es her, dass sich das Marktforschungsinstitut EPatient Analytics und die Digital-Health-Unternehmen die Wunden leckten. „Die Ergebnisse sind so vernichtend schlecht, dass wir sie nur positiv sehen können“, sprach Lindera-Chefin Diana Heinrichs frei von der Leber. Und tatsächlich war die Nutzung von Videosprechstunden und Gesundheitsapps weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zwar hatte sich die Zahl der Telemedizin-Nutzer laut dem EPatient Survey fast verdreifacht, allerdings nur vom winzigen Niveau von 0,7 Prozent auf dann 2 Prozent. So viele Befragte gaben an, schon einmal eine Videosprechstunde genutzt zu haben. Kürzlich von IQVIA veröffentlichte Zahlen zur Telemedizin zeigten im selben Untersuchungszeitraum einen deutlich höheren Schub: Demnach stieg die Nutzung von 2,1 Prozent der Befragten im März auf 3,8 Prozent im April – immerhin fast doppelt so viel, aber trotzdem noch auf sehr niedrigem Niveau.

Ganz anders sieht es nun bei Bitkom aus. Anfang Juli ließ der Digitalverband eine repräsentative Umfrage zur Telemedizin durchführen und in den Führungsetagen von Teleclinic, Kry, Zava & Co. dürfte man die mit Genugtuung lesen: Demnach haben Anfang dieses Monats bereits 13 Prozent der Befragten angegeben, schon einmal eine Videosprechstunde bei einem Arzt oder Therapeuten wahrgenommen zu haben – in blanken Nutzerzahlen sechseinhalbmal so viel wie im EPatien Survey. Frauen zeigen sich dafür offenbar erheblich offener als Männer: 16 Prozent von ihnen haben sich schon einmal über den Laptop oder das Smartphone von ihrem Arzt behandeln lassen, bei den Männern sind es 9 Prozent. Diesen Zahlen zufolge könnte die Telemedizin bald an einer relevanten Schwelle kratzen: Dem 20 Prozent Telemedizin-Anteil, die Ärzte den Regelungen der allermeisten Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zufolge maximal abrechnen dürfen.

Bei Bitkom sieht man diese Schwelle bereits als das nächste große Hindernis für die Telemedizin. „Wir plädieren dafür, dass diese 20-Prozent-Grenze wegfällt“, sagt Rohleder. Dafür, dass bei einem Fünftel aller Behandlungen noch Luft nach oben wäre, spricht Bitkom zufolge nämlich die Zufriedenheit der Patienten mit telemedizinischen Angeboten.

Und in der Tat sind die Zahlen dazu recht eindeutig. 87 Prozent der befragten Telemedizin-Nutzer gaben an, dass sie mit der Behandlung gute (42 Prozent) oder sogar sehr gute (45 Prozent) Erfahrungen gemacht haben. „Das ist ein sensationeller Wert, den wir sonst bei anderen Fragen niemals haben“, sagt Rohleder. Entsprechend gaben auch 91 Prozent an, dass sie Familie und Freunden die Nutzung telemedizinischer Angebote empfehlen würden. Doch auch bei denjenigen, die bisher nur persönlich in die Praxis gegangen sind, scheint eine gewisse Offenheit da zu sein. Mit 45 Prozent kann sich fast jeder Zweite vorstellen, künftig eine Videosprechstunde wahrzunehmen. 38 Prozent hingegen schließen das für sich aus. In dieser Gruppe bevorzugten 84 Prozent ein persönliches Gespräch, 75 Prozent haben Angst vor einer Fehldiagnose. „Das sind insgesamt starke Werte, die dafür sprechen, dass Videosprechstunden nicht weiter limitiert werden sollten“, so Rohleder.

Anders als die Telemedizin noch nicht da, jetzt aber schon beliebt sind Apps auf Rezept. 59 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich vorstellen können, verordnete Gesundheitsapps zu nutzen. Überraschend dabei: Selbst unter der eigentlich wenig digitalaffinen Alterskohorte der über 65-Jährigen gaben das 48 Prozent an. 40 prozent wollen ihren Arzt sogar aktiv nach einer App auf Rezept fragen und 30 Prozent sind der Meinung, dass es künftig Fälle gibt, in denen Apps konventionelle Therapien ersetzen. Der Markt scheint also bereit zu sein. 15 Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) seien bereits im Genehmigungsverfahren, im September rechne er mit der ersten Zulassung, so Rohleder: „Und wir gehen fest davon aus, dass in den Folgemonaten weitere Genehmigungsverfahren gibt und weitere Apps auf den Markt kommen.“

Unterhalb der Verordnungsschwelle haben die DiGA den Durchbruch aber bereits geschafft: Drei Viertel der Befragten gaben an, mindestens eine frei verfügbare App installiert zu haben, darunter vor allem Apps mit Sportübungen für zu Hause (38 Prozent), Apps, die Fitnessdaten wie Schritte oder die Herzfrequenz aufzeichnen (32 Prozent) oder Apps mit Informationen zu Fitness-, Gesundheits- oder Ernährungsthemen (23 Prozent). Und die Apps sind zumindest nach den eigenen Angaben der Befragten nicht nur Spielerei: 63 Prozent sagten, dass sie dank der Apps besser über ihren eigenen Gesundheitszustand Bescheid wissen, 54 Prozent, dass sie sich mehr und 47 Prozent, dass sie sich gesünder ernähren. „Für uns ganz erstaunlich war, dass 39 Prozent angaben, dass sie ihr Leben nach Vitaldaten aus diesen Apps ausrichten“, sagt Rohleder und meint das nicht unbedingt nur positiv. Ihm selbst seien einige „App-Junkies“ bekannt, die unter dem Motto „Quantify Yourself“ ihren Alltag nach den Vitaldaten aus solchen Anwendungen ausrichten. Dazu passt, dass 18 Prozent angaben, sich von den Gesundheitsapps unter Druck gesetzt zu fühlen.

Ebenfalls noch nicht da, aber anscheinend mit großem Interesse erwartet, ist die elektronische Patientenakte (ePA), das „Kernstück der Digitalisierung des Gesundheitswesens“, wie Rohleder es nennt. 73 Prozent gaben an, dass sie das freiwillige Angebot nutzen würden. Besonders wichtig sind ihnen dabei aber Datenhoheit, -schutz, -sicherheit sowie die inländische Speicherung. „Der Gesetzgeber hat hier den richtigen Weg eingeschlagen, als er Datenschutz zum Kernkriterium der elektronische Patientenakte gemacht“, sagt Rohleder, will die Bundesregierung aber auch nicht zu sehr loben: „Problematisch ist, dass die Versicherten künftig kaum Wahlfreiheit bei der elektronischen Patientenakte genießen. Wer eine andere ePa als die seines Versicherers möchte, muss dafür die Krankenkasse wechseln. Die ePa eines privaten Anbieters zu wählen, wird nicht möglich sein. Dies ist ein tief greifender und aus unserer Sicht inakzeptabler Einschnitt in die Wahlfreiheit der Patienten.“

Und das E-Rezept? Das wird ebenfalls von der Mehrheit erwartet. Zwei Drittel der Befragten gaben an, es nutzen zu wollen. Auch hier gilt wieder: Die unterschiede zwischen den Alterkohorten scheinen zu verblassen. Bei den 16- bis 29-Jährigen sind es 70 Prozent, 64 Prozent bei den 30- bis 49-Jährigen, 69 Prozent bei den 50- bis 64-Jährigen und selbst bei den über 65-Jährigen sind 62 Prozent, die das E-Rezept nutzen wollen.

Grund zur Befürchtung, dass E-Rezept und DiGA den etablierten Akteuren im hiesigen Gesundheitssystem Schaden zufügen könnten, sieht Rohleder in einer falschen Gesundheitspolitik. „Wir sehen, dass Digitalisierung zu einer starken Entgrenzung führt. Sie können einem Patienten nicht verbieten, eine digitale Anwendung aus den USA, China oder Polen in Anspruch zu nehmen“, sagt er. „Auf diese Entgrenzung muss auch der Gesetzgeber reagieren. „Wir sollten dafür sorgen, dass Digital Health Made in Germany zu einem internationalen Qualitätsmerkmal wird. Ärzte, Apotheker und andere Leistungserbringer sollten wir nicht einhegen und im Analogen belassen, sondern wettbewerbsfähig machen.“