Antihistaminika bei Senioren

Hoggar & Co.: BfArM sieht keinen Grund für Rx-Pflicht APOTHEKE ADHOC, 16.08.2021 12:12 Uhr

Nach einer Analyse sieht das BfArM erneut keinen Grund für eine Rx-Pflicht von Antihistaminika der ersten Generation bei Senioren. Foto: APOTHEKE ADHOC
Berlin - 

Antihistaminika der ersten Generation werden häufig gegen Schlafstörungen verwendet, doch auch in der Selbstmedikation von Übelkeit und Erbrechen haben sie ihren festen Platz. Immer wieder wird in Zusammenhang mit der Einnahme eine erhöhte Sturzgefahr bei Senioren diskutiert. Dies hatte zuletzt dazu geführt, dass sich der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht überraschend dafür aussprach, dass Menschen ab 65 Jahren Präparate mit den Wirkstoffen Diphenhydramin und Doxylamin nur noch auf Rezept erhalten sollen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sieht nach einer Analyse jedoch erneut keine belastbaren Daten.

Zur betroffenen Wirkstoffgruppe zählen neben Doxylaminsuccinat auch Dimenhydrinat und Diphenhydramin. Die Substanzen sind nicht spezifisch für den H1-Rezeptor: Daher durchdringen sie die Blut-Hirn-Schranke und lösen zentrale Nebenwirkungen aus. Bei der Einnahme kann es zu Nebenwirkungen wie Schwindel, Müdigkeit, Muskelschwäche oder Kopfschmerzen und Sehstörungen kommen. Besonders bei fortgeschrittenem Alter könne es dann zu Gleichgewichtsstörungen, Gangstörungen und Stürzen kommen, so die Bedenken. Deshalb stehen alle drei Wirkstoffe auf der Priscus-Liste.

Im Juli 2019 hatte der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht zunächst gegen eine generelle Rezeptpflicht der Arzneimittelgruppe ausgesprochen. Im vergangenen Jahr kam dann jedoch überraschend die Wende: Der Ausschuss sprach sich dafür aus, dass Menschen ab 65 Jahren Präparate mit den Wirkstoffen Diphenhydramin und Doxylamin nur noch auf Rezept erhalten sollen. Eine damalige Analyse des BfArM hatte jedoch weder aus den Spontanmeldungen noch aus Studien ein erhöhtes Risiko für ältere Patienten ableiten lassen.

Nun hat sich die Behörde erneut mit Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat befasst. Doch das Ergebnis des BfArM bleibt gleich: Insgesamt sieht man in Bonn keine neuen belastbaren Daten, die für eine Rx-Pflicht sprechen.

Wenige Nebenwirkungsfälle, kaum belastbare Studiendaten

Unter anderem wurde die europäische Nebenwirkungsdatenbank EudraVigilance auf sturzassoziierte Nebenwirkungsfälle analysiert. Auch die übermittelten Nebenwirkungen der Zulassungsinhaber wurden betrachtet. Das BfArM konnte kein erhöhtes Risiko für Stürze, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen für die Antihistaminika der ersten Generation feststellen. Die Zahl der Verdachtsfälle lag im mittleren dreistelligen Bereich, der Anteil der Patienten über 65 Jahre lag bei gut 10 Prozent.

Vorhandene Studiendaten ließen laut BfArM aufgrund ihrer Limitationen ebenfalls keine Rückschlüsse auf ein erhöhtes Sturzrisiko bei Älteren zu: Die Patientenzahlen waren oft zu gering, die Studiendauer zu kurz und eine Altersstratifizierung oder die Berücksichtigung von Störfaktoren fehlte.

Ein wichtiger Aspekt, den das BfArM ebenfalls untersuchte, ist die Auswirkung der anticholinergen Wirkung auf kognitive Beeinträchtigungen und die Begünstigung einer Demenz. Verschiedene Untersuchungen hatten sich bereits mit der Thematik beschäftigt. 2018 hatte der PRAC bereits erklärt, dass die Daten jedoch keine regulatorischen Konsequenzen rechtfertigten. Zwei Studien aus 2019 ließen ebenfalls keine gesicherten Rückschlüsse zu. Das BfArM sieht deshalb auch hier keinen Handlungsbedarf.

Auch eine retrospektive Studie des Hoggar-Herstellers Stada hatte gezeigt, dass die Einnahme von Antihistaminika der ersten Generation nicht zu einer erhöhten Sturzgefahr führt. In die Studie flossen Aussagen von 169 Ärzten ein, die in den vorangegangenen sechs Monaten insgesamt 313.046 Patienten, davon 151.927 im Alter von über 65 Jahren, behandelten.

Von 505 Stürzen, die mit einer Einnahme von Antihistaminika der ersten Generation in Verbindung gebracht werden konnten, zeigte sich, dass bei drei von vier Fällen nicht von einem kausalen Zusammenhang ausgegangen werden könne. Bei knapp 95 Prozent der übrigen 123 Stürze gaben die Ärzte alternative Ursachen wie Grund- und Begleiterkrankungen an. Schlussendlich folgerten die Studienautoren, dass Antihistaminika keinen relevanten Anteil am Sturzgeschehen haben. Die Studiendaten wurden im Fachmagazin „Die Pharmazie“ veröffentlicht.