Rezeptur-Retax

Ersatzkassen: Feldzug gegen Apotheken-Spezialität Patrick Hollstein, 03.05.2018 10:37 Uhr

Berlin - 

Dass Patienten auf lebenswichtige Medikamente angewiesen sind, heißt nicht, dass die Kassen diese auch erstatten. Seit mittlerweile zehn Jahren wird vor Sozialgerichten über Zubereitungen mit Oxybutynin gestritten, die exklusiv von einer Apotheke aus Hamburg hergestellt werden. Bundesweit wurden Apotheken retaxiert, weil sie aus Sicht mehrerer Ersatzkassen die Ware nicht hätten abgeben dürfen. Jetzt zeichnet sich ein Ende der Retaxwelle ab.

Die Apotheken hatten Patienten versorgt, die an einer neurogenen Blasenentleerungsstörung als Folge von Querschnittslähmung, Spina bifida, Multipler Sklerose oder anderen neurologischen Störungen litten. Eine unzureichende Therapie der Erkrankung kann zu einem akuten oder chronischen Nierenversagen führen und eine Transplantation und Dialysebehandlung erforderlich machen. Im Extremfall kann die Krankheit tödlich verlaufen.

Primäre Behandlungsmethode ist die Verabreichung von Oxybutynin in Tablettenform. Das Parasympatholytikum senkt Detrusoraktivität, Harnblasendruck und Frequenz der CIC (Clean Internmittent Catherization, Selbstkatheterisierung) und erhöht die cystomerische Harnblasen-Kapazität.

Wenn die orale Gabe – etwa bei Kindern – nicht infrage kommt oder keine ausreichende Wirkung mehr zeigt oder wenn eine Erhöhung der Dosis aufgrund von Nebenwirkungen nicht vertretbar erscheint, kann der Wirkstoff intravesikal appliziert werden. Dabei wird der in eine Spritze abgefüllte Wirkstoff per Stufenkegel-Adapter mit dem Endstück des Blasenkatheters verbunden. Der Patient kann im besten Fall die Applikation selbst vornehmen.

Diese Therapie wird von manchen Kinderärzten als alternativlos gesehen und auch in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie empfohlen. Die frühe Anwendung der sterilen intermittierenden Katheterisierung kann Untersuchungen zufolge Nierenfunktion und Blasenkapazität erhalten und eine soziale Kontinenz herstellen. Die Behandlung sollte möglichst früh begonnen und lebenslang beibehalten werden.

Anders als für die orale Therapie gibt es – trotz des medizinischen Bedarfs – keine zugelassenen Arzneimittel mit den Wirkstoffen Oxybutynin, Propiverin, Trospiumchlorid oder Tolterodin in der Darreichungsform einer Instillationslösung. 1999 nahm sich Klaus Stegemann, Inhaber der Grachtenhaus-Apotheke in Hamburg, dieser Versorgungslücke an. Er bietet Sets mit Oxybutynin zur intravesikalen Behandlung der neurogenen Blasenentleerungsstörung an.

Die 0,1-prozentige Lösung wird entsprechend NRF-Vorschrift durch Dampfdrucksterilisierung aus Oxybutynin, sterilem Wasser, Natriumchlorid und Chlorwasserstoff hergestellt. Die autoklavierte Lösung wird anschließend steril in einem aufwändigen und patentierten Verfahren in Einmalspritzen abgefüllt, mit einem Adapter versehen und verpackt.

Ursprünglich wurden die Sets auf Grundlage einer individuellen Verordnung als Rezepturarzneimittel hergestellt. Doch schnell sprach sich die Expertise des Apothekers aus Hamburg herum, und so verordneten in ganz Deutschland vor allem Kinderärzte die Instillationssets für ihre Patienten. Die Apotheken, in denen die Rezepte eingelöst wurden, bestellten die Zubereitungen beim Kollegen in der Hansestadt. Die Behörde erteilte 2005 eine entsprechende Herstellungserlaubnis – und wies ihn gleichzeitig darauf hin, dass das Produkt bei mehr als 100 Zubereitungen pro Tag nicht mehr als Defektur, sondern als Fertigarzneimittel anzusehen sei. Auch die Belieferung anderer Apotheken spreche für eine über den normalen Apothekenbetrieb hinausgehende gewerbliche Tätigkeit.

So beantragte Stegemann im August 2008 bei Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Zulassung. Bis dahin, so war er sich sicher, würde es keine Probleme geben. Denn alle Produkte, die 2005 bereits auf dem Markt waren, waren vorläufig weiter verkehrsfähig – sofern ein Antrag beim BfArM eingereicht war. Parallel ließ Stegemann sein Produkt mit einer PZN versehen und in der Lauer-Taxe listen. Die Apotheken konnten das Präparat damit als Fertigarzneimittel abrechnen, was für die Kassen sogar günstiger als die Defektur war.

Doch nun fingen die Probleme an. Mehrere Ersatzkassen retaxierten Apotheken, die die Sets bei der Grachtenhaus-Apotheke bestellt und abgerechnet hatten. Ihrer Meinung war das Produkt nicht verordnungs- und erstattungsfähig: Die bloße Verkehrsfähigkeit sei keinesfalls mit einer Zulassung gleichzusetzen – Apotheken dürften aber keine Medikamente ohne Zulassung in den Verkehr bringen. Jedenfalls seien nicht zugelassene Arzneimittel vom GKV-Leistungskatalog nicht erfasst. Im Rahmen ihrer Prüfpflicht hätten sie diesen Umstand erkennen und die Abgabe verweigern müssen, so die Argumentation.

Mehrere Fälle gingen vor Gericht. In einem der Verfahren entschied zuletzt das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, dass mehrere Retaxationen aus den Jahren 2008 und 2009 über insgesamt 9000 Euro nicht rechtens waren. Apotheker müssten zwar prüfen, ob sie bestimmte Arzneimittel abgeben dürfen. Aber weder in der Lauer-Taxe, noch in der Anlage zum Liefervertrag (ALV) sei das Oxybutynin-Set als nicht verkehrsfähig gekennzeichnet gewesen.

Damit sei der Prüfpflicht genüge getan, weitergehende Forderungen könnten an Apotheken nicht gestellt werden. Nicht heranziehen ließen sich Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) zu Einzelimporten und Stückelungsvorgaben, da hier die Sachverhalte ganz anders lägen. Und selbst von einem Fehler des Arztes könne nicht sicher ausgegangen werden, da die fiktive Zulassung mangels Entscheidung des BfArM wahrscheinlich noch gültig gewesen sei. Erst 2013 wurde der Antrag Stegemanns abgelehnt: Die vorgelegten Unterlagen wurde von der Behörde aus konzeptionellen Gründen als nicht geeignet eingestuft, um die im Zulassungsverfahren geforderten positiven Nachweise zu erbringen.

Bereits im vergangenen Jahr war das Thüringer LSG zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Zwar gehöre die Prüfung der Zulassung zu den „originären Aufgaben des Apothekers“. Auch die Richter in Erfurt waren jedoch der Meinung, dass dafür der Blick in die Lauer-Taxe genüge. Diese stelle keine unverbindliche, sondern eine für Patienten, Vertragsarzt und Apotheker grundsätzlich verlässlich Informationsquelle dar. Selbst wenn das Produkt in letzter Konsequenz nicht verordnungsfähig zulasten der Kasse gewesen sein sollte, wirke sich dies allenfalls auf das Verhältnis zwischen Kasse und Versichertem und nicht auf den Vergütungsanspruch der Apotheke aus.

In diesem Fall – hier ging es um mehr als 7000 Euro aus den Jahren 2008 bis 2011 – hatte die Kasse noch versucht, das Verfahren vor das BSG zu bekommen. Die Richter in Kassel sollten klären, ob die Krankenkasse berechtigt ist, die Vergütung einer Apotheke für die Abgabe eines Arzneimittels in voller Höhe zu retaxieren, dessen Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht in einem Zulassungsverfahren festgestellt worden sind und das sich lediglich aufgrund einer Übergangsregelung im Verkehr befindet.

Doch die Nichtzulassungsbeschwerde wurde im November als unzulässig abgewiesen. „Selbst wenn sich eine Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage nicht ohne Weiteres der bisher ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen lassen sollte, fehlen jedoch jegliche Darlegungen dazu, dass sich die Antwort nicht bereits ohne Weiteres aus den einschlägigen Vorschriften – hier insbesondere dem ALV – ergibt“, heißt es in der Begründung.

Stegemann kämpft noch an anderer Front: Seit 2009 streitet er mit mehreren Ersatzkassen darüber, welchen Betrag er selbst abrechnen darf. Es geht um die Grundsatzfrage, ob die sterile Herstellung den Arbeitspreis für parenterale Lösungen nach Hilfstaxe rechtfertigt, oder ob nur der reguläre Rezepturzuschlag abgerechnet werden kann. Ein Fall ruht seit zwei Jahren vor dem LSG Hamburg, weil die Richter die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Weihrauch-Kapseln abwarten wollten. Es geht um knapp 30.000 Euro.

Auch hier gibt es Hoffnung. Denn nicht nur der EuGH hat die Defektur gestärkt. Auch das LSG Stuttgart hat in einem ähnlichen Fall Retaxationen von sterilen Zubereitungen für unzulässig erklärt. Hier hatte die Alte Apotheke in Stuttgart mit der AOK Bremen/Bremerhaven über die Abrechnung von Vitaminspritzen gestritten. Die Kasse hat das Urteil bereits umgesetzt und retaxiert entsprechende Fälle nicht mehr.