BSG-Urteil

Retax-Deal im Zyto-Streit Alexander Müller, 27.11.2015 10:19 Uhr

Berlin - 

Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zur Zyto-Ausschreibung der AOK Hessen drohen etwa 15 Apotheken zum Teil horrende Retaxationen. Weil sie ohne Vertrag geliefert hatten, haben sie mit der AOK insgesamt über einen zweistelligen Millionenbetrag gestritten. Doch im Vorfeld gab es eine Absprache, die die unterlegene Seite vor dem Schlimmsten bewahren soll.

Allein im verhandelten Fall ging es um einen Betrag von mehr als 70.000 Euro – für den Monat Dezember 2013. Doch die retaxierten Apotheker versorgten ihre Versicherten während der gesamten Vertragslaufzeit weiter, obwohl die Kasse auf den Exklusivstatus ihrer Partnerapotheken hingewiesen hatte. Entsprechend summierten sich die Rückforderungen der Kasse in den vergangenen zwei Jahren auch in Einzelfällen auf siebenstellige Beträge.

Die Kasse hatte die Summen bislang nicht fällig gestellt, weil der Ausgang des Verfahrens abgewartet werden sollte. Jetzt kann die AOK zuschlagen. Allerdings werden nicht alle Apotheker auf Null retaxiert: Nach Informationen von APOTHEKE ADHOC hat die Kasse mit mehreren Zyto-Apothekern eine Vereinbarung getroffen, die einen Sicherheitspuffer für beide Seiten beinhaltet.

Demnach sollte die – je nach Ausgang des Verfahrens – unterlegene Seite entlastet werden. Hätten die Apotheker gewonnen, hätten sie der AOK einen Rabatt auf die erbrachten Leistungen gewährt. Die Kasse hätte also nicht die vollen Listenpreise bezahlen müssen. Im Gegenzug hatte sich die AOK verpflichtet, nicht den kompletten Betrag zu retaxieren, sollte sie gewinnen.

Nicht alle retaxierten Apotheken haben sich auf den Deal eingelassen – und werden sich jetzt vermutlich darüber ärgern, denn sie trifft die Retaxation mit voller Wucht. Wie viele Apotheker unterschrieben haben, ist nicht bekannt. Die AOK soll aber auf einer Beteiligung mehrerer Pharmazeuten bestanden haben, um sich überhaupt darauf einzulassen. Auch über die Höhe der jeweiligen Abschläge wurde Stillschweigen vereinbart. Die eigentlichen Gewinner der Ausschreibung dürften über den Vorgang ohnehin nicht sonderlich erfreut sein – so sie nicht zwischenzeitlich abgesprungen waren.

Der Hessische Apothekerverband (HAV) hat zwar die Einspruchverfahren für die Apotheker übernommen, wollte mit Vereinbarungen einzelner Apotheker mit der AOK aber nichts zu tun haben – schon aus kartellrechtlichen Gründen. Die Apotheker seien bei Anfragen an den Verband stets an ihre eigenen Anwälte verwiesen worden, heißt es.

Da man sich nicht auf einen außergerichtlichen Vergleich verständigen konnte, dürften die jeweiligen Restbeträge jedenfalls deutlich auseinander liegen. Seit der mündlichen Verhandlung ist immerhin bekannt, dass die AOK mit ihren eigentlichen Rabattpartnern etwa ein Drittel der Kosten eingespart hätte.

Die Kasse erklärte auf Nachfrage, man werde mit dem Urteil „mit Augenmaß umgehen“. Die Entscheidung sei richtig und schlüssig begründet. Die Regelung des Gesetzgebers zu Ausschreibungen könnten nicht ausgehebelt werden. „Gleichzeitig wurde erkannt, dass es auch möglich sein muss – schließlich will es der Gesetzgeber so – bei gleichbleibender Qualität der Versorgung wirtschaftliche Hebel anzusetzen“, so ein Sprecher.

Aus Sicht der Kasse werden auch keine Versichertenrechte beschnitten, das habe das BSG unmissverständlich klargestellt. Der Patient, der eine Sterilrezeptur benötige, besitzt den Richtern zufolge nämlich gar kein Apothekenwahlrecht. „Wir behalten uns nach diesem Urteil vor, jene Apotheken, die keine Lieferberechtigung besitzen, zu retaxieren“, so die AOK.

Damit bekommt die Kasse die Versorgung ihrer Krebspatienten für zwei Jahre sogar noch günstiger und von den Apotheken ohne „Deal“ vollständig gratis. Denn das BSG hat seine überraschenden Ausführungen zur Wahlfreiheit der Versicherten mit seiner früheren Rechtsprechung zu Null-Retaxationen kombiniert. Weil die Apotheker eine Leistung ohne Berechtigung erbrachten, hätten sie auch keinen Anspruch auf Vergütung, so die Begründung.

Die komplette Vergütung als Einsatz erscheint bei diesen Umsätzen als enormes Risiko aus Sicht der Apotheker. Andererseits hat kaum jemand erwartet, dass die Kasse diesen Prozess gewinnt. Selbst unbeteiligte Juristen können aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG nur eine Tendenz ablesen: „Die Kasse gewinnt immer.“ In Kombination mit Null-Retaxationen sei das alles nicht mehr nachvollziehbar.

Die Apotheker hatten aber nicht nur viele Experten hinter sich, sondern auch die Apothekerkammer, den HAV und vor allem ihre eigene Aufsichtsbehörde. Auf Nachfrage hatte das Regierungspräsidium Darmstadt (RP) gegenüber einem retaxierten Apotheker erklärt, dass der Kontrahierungszwang natürlich gelte. „Die Apotheken haben sich an die Gesetze zu halten. Es würde übrigens den Krankenkassen gut anstehen, Apotheken nicht zu Gesetzesverstößen anzuhalten“, so das RP deutlich.

Natürlich wurde dieser Punkt auch in Kassel vorgetragen. Doch die Anwälte der AOK taten den Einwand recht schnell ab. Es sei gar nicht klar, worauf das RP genau geantwortet habe. Die Richter interessierten sich in der Folge nicht weiter für die Sache.

Die Frage des Kontrahierungszwangs könnte im zweiten Retax-Verfahren erneut spannend werden. Das Sozialgericht Marburg hatte – wie das SG Darmstadt im Parallelverfahren – zu Gunsten des Apothekers entschieden. Die Kasse könne sich mit Verträgen nicht über das Wahlrecht der Patienten hinwegsetzen.

In diesem Verfahren war die AOK aber nicht in Sprungrevision direkt zum BSG gegangen, sondern hatte Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt eingelegt. Hier wurde noch nicht verhandelt, vermutlich sollte erst das BSG-Urteil abgewartet werden.

Das Besondere an diesem Fall: Die Patienten der onkologischen Praxis bekamen ihre Rezepte tatsächlich ausgehändigt und lösten diese selbst in der Apotheke ihrer Wahl ein, die die Sterilrezepturen dann an die Praxis lieferte. Die AOK retaxierte auch hier auf Null, weil der Apotheker kein Vertragspartner war. Sollte auch dieses Verfahren vor dem BSG landen, wird es wieder spannend: Die Kasseler Richter müssten bei ihrer Interpretation von Patientenwahlrecht und Kontrahierungszwang noch einen Schritt weiter gehen.