Studie: Digital Health diktiert künftig die Regeln

Apotheken sollen sich an Plattformen anpassen – nicht umgekehrt APOTHEKE ADHOC, 01.10.2020 13:06 Uhr

Digital vor ambulant: Einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zufolge müssen sich ambulante Versorger künftig Gesundheitsplattformen anpassen, nicht umgekehrt. Foto: Pixabay
Berlin - 

Dass die Covid-19-Pandemie Versandhandel und Telemedizin einen Zulauf beschert hat, ist gemeinhin bekannt. Einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zufolge hat die Krise aber dem gesamten Digital-Health-Markt einen unerwarteten Schub gegeben: Um zwei Jahre habe die Krise dessen Entwicklung jetzt schon beschleunigt. Die strukturellen Folgen könnten demnach grundlegend sein: Die Rolle von Tech-Unternehmen und Start-ups werden massiv zunehmen, künftig werden bestimmte Unternehmen Patienten „besitzen“ – und die klassischen ambulanten Versorger müssen sich demnach der neuen Plattform-Wirtschaft anpassen, nicht umgekehrt.

12 Prozent aller Ausgaben: So hoch prognostiziert Roland Berger den Anteil digitaler Gesundheitsdienstleistungen am gesamten Gesundheitsmarkt bis 2025. Allein in Deutschland werde das demnach ein Ausgabenvolumen von 57 Milliarden Euro bedeuten, in der EU 232 Milliarden und global fast eine Billion Euro. Damit liegen die Schätzungen der diesjährigen Studie „Future of Health“ erheblich über denen des Vorjahres für diesen Zeitraum: Die lagen bei einem Anteil von 8 Prozent und 38 Milliarden Euro in Deutschland. Roland Berger hatte dazu weltweit 500 Experten aus verschiedenen Fachbereichen des Gesundheitsmarktes interviewt.

Und deren erheblich vom Vorjahr abweichende Angaben haben einen Grund: die Covid-19-Pandemie. „Mehr als drei Viertel der Befragten gehen davon aus, dass die Corona-Pandemie die Einführung digitaler Healthcare-Dienstleistungen um mindestens zwei Jahre beschleunigen wird, da sich die Bevölkerung an kontaktlose Angebote für die Gesundheitsfürsorge gewöhnt“, so Roland Berger. Parallel dazu steige das Bewusstsein der Anwender: Drei Viertel der Befragten gaben an, dass die Patienten zunehmend eigenverantwortlich mit ihren Gesundheitsdaten umgehen und selbst entscheiden werden, wem sie was zur Verfügung stellen. „Wenn diese Erwartung begründet ist, kommt dem Einstiegspunkt in Plattformsysteme eine enorme Bedeutung zu“, so Roland Berger.

Denn die Plattformen werden nach einhelliger Meinung eine zentrale Rolle in der Gesundheitsversorgung der Zukunft spielen – und auf deren Mechanismen müssten sich die bisherigen Platzhirsche im Gesundheitswesen einstellen, wenn sie nicht unter die Räder kommen wollen. Dazu gehört auch ein auf den ersten Blick paradoxes Ergebnis der Studie: Zwar würden Patienten künftig noch mündiger mit ihren eigenen Daten umgehen, gleichzeitig hält die Mehrheit der Studienteilnehmer nicht den gesundheitlichen Mehrwert, sondern die Kundenerfahrung für den wichtigsten Erfolgsfaktor für Healthcare-Plattformen. Bei Gesundheits-Apps spiele hingegen die Benutzerfreundlichkeit eine zentrale Rolle.

Und genau in diesen offenbar entscheidenden Punkten liegen die Tech-Anbieter weit vor den klassischen Gesundheitsdienstleistern. Neue Spieler drängen in den Markt und verschärfen demnach den Wettbewerb. „Es entstehen immer mehr Spezialisten. Das führt zwangsläufig zu einer Vernetzung untereinander, um eine durchgehende User Journey zu gewährleisten“, erklärt Karsten Neumann, einer der Studienautoren. „Relevante Partnerschaften, in denen alle Teilnehmer profitieren, werden in Zukunft der entscheidende Erfolgsfaktor sein.“ Denn jene Unternehmen bringen das technische Know-how und die Datenmacht mit, gegen die klassische Gesundheitsdienstleister nicht konkurrieren können.

Die Frage nach der Integration von Online- und Offline-Welt sei deshalb von größter Wichtigkeit für die strategischen Überlegungen der Healthcare-Branche, gaben 84 Prozent der Befragten an: „Erfolgreiche Akteure werden Patienten und anderen Healthcare-Konsumenten eine nahtlose Erfahrung bereitstellen. Mehr als vier Fünftel der Befragten rechnen mit einem starken Wachstum von Plattformen, die virtuelle und reale Dienstleistungen miteinander kombinieren“, so Roland Berger. Der Ablauf von Verordnung zur Abgabe vor Ort beispielsweise muss also so reibungslos und bequem wie möglich funktionieren – und zwar für die Patienten, nicht für Verordner oder Apotheker. Die von der Unternehmensberatung befragten Experten gehen in der Mehrheit davon aus, dass bestimmte Unternehmen künftig Patienten „besitzen“: Ein Patient ist auf einer Plattform oder in einer Anwendung registriert. Es sind deren Anbieter, die den besten Überblick über deren Daten haben und beispielsweise Empfehlungen für weitere Gesundheitsdienstleistungen aussprechen und die dann auch vermitteln. Und die Erfahrung aus anderen Branchen zeigen, dass Verbraucher dazu neigen, sich an bestimmte Anbieter zu binden – allein schon der Bequemlichkeit wegen.

Die großen Tech-Konzerne sind da natürlich prinzipiell gut aufgestellt. Allerdings verweist die Studie auf einen anscheinend erheblichen Vorteil kleinerer Anbieter: das Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen Daten unter den Patienten. Denn die absolute Mehrheit von ihnen hätte demnach Vorbehalte, ihre Gesundheitsdaten an Konzerne à la Amazon zu geben. „Damit steigen die Chancen für Unternehmen und Plattformanbieter aus dem Gesundheitswesen, die als Schnittstelle virtuelle und reale Dienstleistungen kombinieren“, sagt Neumann. Das heißt jedoch längst noch nicht, dass die auch die Regeln diktieren können. „An diese neuen Plattformmodelle sollten sich auch ambulante Dienstleistungsanbieter anpassen. Ansonsten laufen sie mittelfristig Gefahr, marginalisiert oder aus dem Markt gedrängt zu werden“, so die Unternehmesberatung. Fast zwei Drittel der befragten Experten erwarten demnach veränderte Geschäftsmodelle für ambulante Dienstleistungen. „Es ist wichtig, dass Anbieter jetzt die Weichen für die nächsten Jahre stellen", rät Neumann. „Sie müssen sich fragen, welche Plattformen sie bedrohen können, oder wo und in welchem Netzwerk sie selbst ihr Geschäftsmodell ausweiten.“