Pharmaziestudium: Durchfallen mit Ansage 18.10.2025 07:53 Uhr
„Geh' Pharmazie studieren, haben sie gesagt. Wird hart, aber es lohnt sich, haben sie gesagt“: So denken viele Studierende dieser Tage, wenn sie in einer schier unschaffbaren Prüfung sitzen. Es mag überraschen, aber: Es wird gar nicht erwartet, dass sie bestehen.
Lisa Müller ist Arbeiterkind, hat sich hochgekämpft, alle mit ihrem 1,0-Abitur überrascht, die Familie stolz gemacht. Statt beim Work-and-Travel in Australien ihr Gap Year zu genießen, steht sie in einem Hörsaal, in dem die Luft nach Druckerpapier und einer Mischung aus Mate, Kaffee und Energy-Drink riecht. Heute ist ihr allererstes Antestat – die schriftliche Prüfung, die entscheidet, ob sie ins Praktikum darf oder ein ganzes Jahr verliert.
Vorne stapeln sich die Prüfungsbögen. Vor ihr liegen 90 Minuten und 60 Multiple-Choice-Fragen, kein Erbarmen. Lisa bekommt ihr Exemplar, die Prüfung startet offiziell, sie legt den Taschenrechner bereit und liest die erste Aufgabe: „Wie beeinflussen kinetische und thermodynamische Parameter die polymorphe Stabilität eines amphiphilen Wirkstoffs in einer mehrphasigen, sauerstofffreien Zubereitung und welche Auswirkungen hat dies auf die Freisetzungskinetik?“
Sie blinzelt. Noch einmal. Vielleicht steht da ja etwas anderes, wenn man es ein zweites Mal liest. Aber nein – das ist wirklich die erste von sechzig Fragen. Eine davon, die man, wenn überhaupt, nach dem Praktikum beantworten könnte.
Bestehen? Ausgeschlossen!
Da tritt ihr Dozent, Professor Dr. Jürgen Albrecht, an ihren Tisch. Er beugt sich leicht vor, spricht mit der sanften Stimme eines Mannes, der die Tragödie schon zu oft gesehen hat. „Sie wissen, dass Sie das gar nicht schaffen können?“ Lisa blickt auf. „Verzeihung?“ – „Na, diese Prüfung bestehen. Das ist ausgeschlossen.“ Er lächelt, fast väterlich. „Wo kämen wir denn da hin? Wenn alle durchkämen, würde unser Niveau doch sinken.“
Er richtet sich auf, blickt über die Reihen gebeugter Köpfe. „Bei uns damals im Studium gab es auch Fächer, bei denen siebzig Prozent durchgefallen sind: Organische Chemie zum Beispiel. Das ist an jeder Uni so und gab es schon immer. Das gehört zum guten Ton.“
Er will schon weitergehen, bleibt dann aber noch einmal stehen und lässt seinen Blick über die Reihen schweifen. Er wartet: Vielleicht, weil ihm niemand etwas entgegensetzt. Vielleicht, weil er sich fragt, ob er sich einfach mal gehen lassen soll. „Das war bei uns früher auch so, und jeder wusste, dass er sein erstes Antestat mindestens zweimal schreiben muss.“ Er hebt nun den Kopf, sein Ton wird fester. „Das ist das Problem heutzutage – alle glauben, sie könnten alles gleich beim ersten Versuch. Dabei lebt Wissenschaft vom Irrtum, vom Stolpern, vom Wiederaufstehen.“
Dann kippt etwas in seiner Stimme. „Früher hat man gelernt, weil man musste. Tagelang, ohne Schlaf, ohne Jammern. Heute braucht man für alles eine Triggerwarnung und eine Selbsthilfegruppe.“ Ein kurzes Schnauben. „Kaum fällt mal jemand durch, heißt es gleich, man sei überfordert – Burn-out, Leistungsdruck, Panikattacken. Früher nannte man das Lampenfieber.“
Ohne Scheitern keine Läuterung
Ein Raunen geht durch den Hörsaal – aber Albrecht beginnt ungerührt zu gestikulieren, die Stimme hebt sich. „Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Sie alle glauben das sogar! Dass man wegen Stress nichts leisten kann. Dabei ist Stress das Fundament dieser Disziplin – ohne Druck kein Kristall, kein Wirkstoff, kein Fortschritt.“
Dann lacht er leise, dieses dünne, klirrende Lachen, das im Raum hängen bleibt. „Na, wenn sie alle durchfallen, dann waren Sie dieses Mal eben nicht gut genug! In meinem Jahrgang sind dreißig von sechzig bei genau dieser Prüfung durchgefallen!“ Eine kurze Pause. „Und wissen Sie was? Das war gut so!“ Er richtet sich ganz auf, als stünde er auf einer Kanzel. „Das gehört doch dazu! Wer nicht durchfällt, hat nichts gelernt! Ohne Scheitern keine Läuterung! Oder wollen Sie alle Taxifahrer werden?“
Lisa starrt auf ihren Prüfungsbogen. Die Buchstaben verschwimmen. Nach einem kurzen Räuspern ist der Professor weitergegangen, zufrieden mit seiner kleinen Offenbarung, als hätte er gerade eine Messe gelesen.
Work & Warten
Schließlich legt sie ihren Stift beiseite. Ein Jahr Pause, denkt sie. Ein ganzes Jahr, um zu beweisen, dass sie es beim nächsten Mal besser macht. Oder wenigstens, dass sie es übersteht. Vielleicht jobbt sie in einer Apotheke, fährt Medikamente aus, rührt zuhause Salben aus Butter und Frust. Work & Warten statt Work & Travel.
Sie sieht sich schon wieder hier sitzen – dieselbe Bank, dieselbe Luft, dieselben Fragen. Und sie versteht: Diese Universität will gar keine Studierenden, sie will Gläubige. Das Durchfallen ist hier keine Panne, sondern Pilgerweg. Erst wer scheitert und zurückkehrt, gilt als würdig.
Das Antestat ist weniger Prüfung als Weihehandlung. Minutenlanges kontemplatives Starren auf unbekannte Fragen. Wer das überlebt, ist vorbereitet – auf das Praktikum, auf das spätere Berufsleben – im HV, im Nachtdienst, im Gesundheitssystem überhaupt.
Lisa begreift: Die Universität versteht sich gar nicht als Bildungsstätte, sondern als spirituelle Schmiede: Aus Studierenden werden Leidende, aus Leidenden werden Erleuchtete.
An der Martin-Luther-Universität in Halle sind tatsächlich rund 30 Pharmaziestudierende kurz vor dem dritten Semester bei einer wichtigen Prüfung durchgefallen. Sie kritisieren unfaire Bedingungen und mangelnde Vorbereitung, während die Universität die Vorwürfe zurückweist und auf die Einhaltung der Approbationsordnung verweist.
Darüber hinaus hat Apotheker Lutz Gebert aus Schmölln AOK-Chefin Carola Reimann zu einem einwöchigen Praktikum eingeladen. Hintergrund ist Reimanns Zustimmung zur Ablehnung einer Honorarerhöhung, die Gebert als Ausdruck fehlender Wertschätzung für den Berufsstand sieht. Auf seine Einladung hat Reimann bislang nicht reagiert.
Als erster Versender betreibt Medikamente-per-Klick in Geroldsgrün ein E-Rezept-Terminal, über das Verordnungen direkt an den Versender übermittelt werden. Beratung erfolgt per Hotline. Die Gemeinde begrüßt das Projekt als wohnortnahe Versorgungslösung, während Apothekenteams den Schritt kritisch sehen.
CDU-Politiker Georg Kippels lobte in dieser Woche das Engagement der Apothekerschaft, kritisiert aber, sie bremse sich durch ihr Verantwortungsbewusstsein selbst. Allerdings stünden sie sich oft selbst im Weg.
In diesem Sinne: Ein schönes Wochenende.