Primärarztsystem

Patientensteuerung: KBV-Papier stößt auf gemischte Reaktionen 27.05.2025 13:57 Uhr

Berlin - 

Aktuell findet der Ärztetag in Leipzig statt. Pünktlich dazu hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ein Positionspapier mit dem Titel „Positionen und Vorschläge zur Patientensteuerung in der Notfall-, Akut- und Regelversorgung“ zur Patientensteuerung vorgelegt – und erntet dafür sowohl Lob als auch Kritik.

„Die ambulante Versorgung verbessern wir gezielt, indem wir Wartezeiten verringern, das Personal in ärztlichen Praxen entlasten und den Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten bedarfsgerecht und strukturierter gestalten“, heißt es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien Union und SPD. Um diese Ziele zu erreichen, hat die KBV ein Positionspapier vorgelegt. Es soll helfen, Arztbesuche gezielter zu koordinieren, Versorgungsqualität zu sichern und unnötige Belastungen – etwa in Notaufnahmen – zu vermeiden.

In rund 99.000 Praxen fänden täglich etwa 3,8 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte statt. Angesichts des demografischen Wandels und medizinischer Fortschritte steige der Bedarf an ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungen kontinuierlich. Gleichzeitig verschärfe der zunehmende Fachkräftemangel die ohnehin bestehenden Kapazitätsengpässe – sowohl beim ärztlichen als auch beim nichtärztlichen Personal.

Voreinschätzung und Überweisung

Die KBV verfolgt das Ziel, die Versicherten durch eine gezielte Steuerung effizienter zu versorgen. Dafür sollen Patientinnen und Patienten für die primäre Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen eine Vertragsärztin oder einen Vertragsarzt aus bestimmten Facharztgruppen wählen. Hausärzte, Kinder- und Jugendärzte sowie Frauenärzte sollen dabei in der Rolle als erste Ansprechpartner fungieren und bei Bedarf die Weiterbehandlung durch andere Fachärzte koordinieren.

Für Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden oder chronischen Erkrankungen soll ein direkter Zugang zu fachärztlicher Versorgung durch sogenannte „Bezugsärzte“ ohne vorherige Überweisung möglich bleiben. Auch einige Fachrichtungen sollen von der Steuerung ausgenommen werden: Augenärzte, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sollen weiterhin ohne Überweisung aufgesucht werden können. Auch für Früherkennungsuntersuchungen und Schutzimpfungen soll keine vorherige Einschätzung notwendig sein.

Ergänzend zum Primärarztmodell soll auch die Rufnummer und digitale Plattform 116117 eine Möglichkeit der gesteuerten Versorgung sein. Versicherte, die keinen steuernden Vertragsarzt gewählt haben, sollen sich hier zur Terminvermittlung und fachärztlichen Zuweisung melden können. Die Plattform soll zudem für strukturierte Ersteinschätzungen eingesetzt werden – insbesondere zur Entlastung von Notaufnahmen und besseren Koordination in Akutfällen.

Damit über die Plattform ausreichend Termine zur Verfügung stehen, müssten Arztpraxen entsprechende Zeitfenster bereitstellen. Um mögliche finanzielle Nachteile aufgrund ungenutzter Termine zu vermeiden, sei eine Vorhaltefinanzierung notwendig.

Um in diesen Fällen einer Überweisung eine bedarfsgerechte und angemessene medizinische Versorgung sicherzustellen, sollen die durch den Facharzt durchgeführten oder veranlassten Leistungen außerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) finanziert werden. Das heißt: Die Vergütung dieser Leistungen ist nicht gedeckelt, sondern wird vollumfänglich zusätzlich zum bisherigen Budget bezahlt.

Hausärzte fordern „echtes Primärarztsystem“

„Es ist positiv, dass die KBV nach vielen Anläufen endlich eigene Ideen zur Patientensteuerung vorgelegt hat. Mit einem wirklichen hausärztlich gesteuerten Primärarztsystem haben die Vorschläge allerdings wenig zu tun“, kritisieren die Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Professor Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier. Vielmehr werde hier ein Primärarztmodell nach dem Prinzip „Schweizer Käse“ vorgeschlagen – mit unzähligen Ausnahmen, Schlupflöchern und alternativen Versorgungspfaden.

Effiziente Versorgung und klare Strukturen suche man hingegen vergebens. „Das Ende vom Lied wird sein, dass nur ein kleiner Teil der Patientinnen und Patienten wirklich von den Vorteilen eines Primärarztsystems profitieren würde. Die meisten würden auch zukünftig auf sich alleine gestellt durch das System irren“, so Buhlinger-Göpfarth und Beier.

Das Primärarztsystem ziele darauf ab, dass die meisten Patienten direkt beim Hausarzt versorgt würden und Fachärzte nur bei echtem Bedarf hinzugezogen würden. Als Generalisten seien Hausärztinnen und Hausärzte dafür geschult, viele Fälle abzuschließen. „Diesen Fakt ignoriert das KBV-Papier komplett“, kritisiert der Verband. „Anders ist nicht zu erklären, dass beispielsweise auch Gynäkologinnen und Gynäkologen steuern sollen. In der Praxis würde das bedeuten, dass diese zwar formal der erste Ansprechpartner für ihre Patientinnen sind, sie diese aber sofort weiterschicken müssten, wenn kein explizites gynäkologisches Anliegen vorliegt. Oder sollen Gynäkologinnen und Gynäkologen zukünftig etwa die Palliativversorgung bei Demenzpatientinnen übernehmen oder DMPs organisieren?“ Auch die Idee des fachärztlichen „Betreuarztes“, den man ohne Überweisung aufsuchen dürfe, gehe in dieselbe Richtung, da hier Partikularinteressen bedient würden statt das große Ganze im Blick zu behalten.

Ebenso laufe der Ausbau der 116117 zu einer Überweisungshotline während der regulären Praxisöffnungszeiten den Zielen eines Primärarztsystems komplett zuwider. „Nach den Vorstellungen der KBV soll jede Patientin oder Patient, die oder der seine Hausarztpraxis gerade nicht erreicht oder sich einfach keine Praxis suchen möchte, jederzeit an die 116117 wenden. Dort sollen dann nach kurzer telefonischer Konsultation Überweisungen zu Facharztpraxen ausgestellt werden. So wird natürlich kein Patientenanliegen effizient geklärt und kein einziger unnötiger Facharztbesuch verhindert!“, so Buhlinger-Göpfarth und Beier.

Positiv bewertet der Verband dagegen die Vorschläge zur Notfallversorgung und der Akutversorgung außerhalb der Praxisöffnungszeiten. „Hier stimmen wir mit der KBV überein, dass es deutlich verbindlichere Strukturen als bisher braucht.“

Zustimmung aus den Ländern

Lob kommt dagegen aus den Ländern: So lobt die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) die Vorschläge zur besseren Patientensteuerung.

Das Positionspapier der KBV belege das große Innovationspotenzial der ärztlichen Selbstverwaltung. „Wir wissen, was wir tun und wie wir die Versorgung zukunftsfest machen können. Es ist die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Die Antwort auf die Frage nach der Finanzierung liegt im konsequenten Ausschöpfen der Ambulantisierungspotenziale“, betont Anke Richter-Scheer, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KVWL. So könne auch die Entbudgetierung der nach qualifizierter Überweisung oder Zuweisung mit- und weiterbehandelnden Fachärzte gegenfinanziert werden.

Durch das Hotline-First-Prinzip und strukturierte Ersteinschätzungen könne die Versorgung nach Dringlichkeit gesteuert und die Notfallversorgung gezielt entlastet werden. „Der Weg über die 116117 entlastet die Praxen und sorgt dafür, dass knapper werdende Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden,“ erklärt Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der KVWL. Dabei entlaste die strukturierte Ersteinschätzung durch qualifiziertes Personal nicht nur die Praxen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, sie unterstüte vor allem auch die Patienten dabei, schnell ein passendes Behandlungsangebot zu bekommen.

Warken: Gemeinsam gestalten

Auch Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) betonte, dass sie den Aufbau eines Primärarztsystems unterstützen werde. Ein entsprechendes Konzeptpapier der Bundesärztekammer sei eine gute Voraussetzung – vor allem, weil ein breiter Grundkonsens in der Fachwelt bestehe. Es handele sich jedoch um ein komplexes Reformvorhaben, bei dem keine neuen Herausforderungen geschaffen, sondern bestehende Strukturen gezielt weiterentwickelt werden sollten.

Daher müsse man gemeinsam in den Reformprozess einsteigen, so Warken. Auch die Patientinnen und Patienten müssten dabei mitgenommen werden. Zudem forderte sie weniger Bürokratie im Gesundheitswesen, damit mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten bleibt.