Overwiening kontert FAZ-Kommentar 28.10.2025 13:38 Uhr
„Keiner braucht die Apotheken“, kommentierte Redakteur Ralph Bollmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). Die Arzneimittelversorgung über Apotheken sei überholt, die Kompetenzen von Apothekerinnen und Apothekern fraglich. Die Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe (AKWL), Gabriele Regina Overwiening, reagiert empört – und erklärt der Redaktion in einem Leserbrief, warum es mehr Apotheken braucht und nicht weniger.
Der FAZ-Redakteur unterschätze, was wohnortnahe Apotheken jeden Tag für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten, die Therapietreue und die Versorgungssicherheit leisteten – „und zwar weit über das reine ‚Verkaufen von Tabletten‘ hinaus“, kritisiert Overwiening deutlich.
„Dass der Autor dabei mit einem Federstrich rund 160.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze über die Klippe springen lässt (ach ja, sind ja ‚nur‘ Frauen-Jobs), ist schon schlimm genug. Dass er mit der faktischen Aufkündigung der letzten Sicherheitsbarriere vor der Arzneimitteleinnahme durch den Patienten einfach Menschenleben riskiert, ist markerschütternd: als Bürgerin, als Apothekerin und Abonnentin Ihrer Zeitung“, so Overwiening.
Keine „Bagatellpillen“
Zunächst einmal sei Selbstmedikation kein Selbstläufer. „Bagatellpillen“ gebe es medizinisch nicht. So sei beispielsweise Ibuprofen für viele Menschen sinnvoll – für andere, zum Beispiel bei Magen-Darm- oder Nieren-Erkrankungen, in Kombination mit Blutverdünnern oder bestimmten Antidepressiva, dagegen gefährlich.
Paracetamol sei in der Überdosierung sogar lebertoxisch. „Das bedeutet im konkreten Fall nicht weniger als die Wahl: Transplantation oder Tod“, erklärt die Kammerpräsidentin.
In der Apotheke würden Kontraindikationen, Interaktionen und Doppelanwendungen im Kontext der individuellen Situation geprüft, darunter Alter, Begleiterkrankungen, Dauermedikation, Schwangerschaft beziehungsweise Stillzeit. „Gerade weil ‚die meisten Kunden schon wissen, was sie wollen‘, verhindern wir täglich Fehl- und Überanwendungen – niedrigschwellig, ohne Termin, ohne Hürde“, erklärt Overwiening.
Beratung ist gesetzlicher Auftrag
„Beratung ist keine Verkaufsmasche, sondern gesetzlicher Auftrag und gelebte Verantwortung“, stellt sie klar. Apothekenteams dokumentierten Hinweise, erklärten Dosierungen, Einnahmedauer und Alternativen wie Bettruhe, verwiesen bei Warnzeichen an Ärzt:innen und unterstützten bei der richtigen Anwendung zum Beispiel von Inhalatoren, Nasensprays, Salben, Kapseln.
Dass einzelne (Kombi-)Produkte in Tests schlecht abschneiden würden, dürfe nicht zur Pauschalkritik an einer ganzen Berufsgruppe führen. „Für die Kammern ist unabhängige, evidenzbasierte Beratung Maßstab – und wir sanktionieren Fehlverhalten“, betont Overwiening.
„Doppelte Sicherheit“
Rezeptpflichtige Arzneimittel „nur nach ärztlicher Anweisung abgeben“ – das klinge zwar simpel, sei es aber in der Praxis nicht. „Wir erkennen Verordnungsfehler, Interaktionen bei Polymedikation, Dosierungs- oder Darreichungsfehler, prüfen Unverträglichkeiten, setzen Verordnungen unter Rabattverträgen rechtssicher um, sichern Kühlkette und Fälschungsschutz und lösen Lieferengpässe – oft in Minuten, nicht in Tagen. Wir sind die letzte unabhängige Sicherheitsinstanz im Arzneimittelprozess“, erklärt sie weiter.
Eine solche „doppelte Sicherheit“ werde in keinem anderen Hochrisiko-Prozess zur Disposition gestellt – nur bei Arzneimitteln fordere der Autor das, obwohl gerade dort ein Buchstabendreher oder eine Verwechslung von Gramm zu Milligramm den Unterschied von Leben oder Tod bedeuten könne.
„Wer einen Kommentar schreibt, kann diesen am nächsten Tag verändern, zurückrudern oder ein öffentliches Gewitter an sich vorbeiziehen lassen. In der Arzneimittelversorgung sind Fehler gefährlich für Leib und Leben“, so die Apothekerin.
Mehr als Logistik
Versorgung sei außerdem mehr als reine Logistik. Nacht- und Notdienst, Rezepturen unter anderem für Kinder, Dermatologie, Schmerztherapie und auch dann, wenn sich die Herstellung für die Industrie nicht lohne, Akut-Belieferung bei Klinik-Entlassungen, Heimbelieferung, Palliativversorgung, Betäubungsmittel- und besondere Lagerpflichten, Impf- und Testangebote, Adhärenz- und Medikationsmanagement – „das sind Gemeinwohlaufgaben, die nicht per Fernlogistik substituierbar sind.“
Zentralisierung könne die wohnortnahe, sofort verfügbare Individualversorgung nicht ersetzen. „Menschen, die mit diesen Bereichen Arbeiten oder Angehörige haben, kämen nicht im Traum auf die Idee, sich über die Institution Apotheke dermaßen vernichtend zu äußern. Die sind nämlich auf dezentrale Strukturen angewiesen, um Patienten zu versorgen.“
Arzneimittel sind keine einfachen Konsumgüter
„‚Liefern wir eben direkt an die Haustür‘ löst kein Strukturproblem, sondern schafft neue Risiken“, stellt Overwiening klar. Arzneimittel seien keine Konsumgüter. „Es geht um Temperaturführung, Identitätssicherung, Beratung im Moment der Abgabe, Rückfragen bei Warnsignalen und die unmittelbare Lösung von Engpässen. Apotheken tun dies täglich per Botendienst – am selben Tag, mit pharmazeutischer Begleitung“, so die Kammerpräsidentin.
Eine Verlagerung ins Ausland möge rechtliche Grauzonen ausnutzen, sie entziehe aber der deutschen Aufsicht, der Qualitätssicherung, der Arzneimittelsicherheit die Grundlage. „Das schwächt am Ende gerade die ländlichen Räume, die der Kommentar zu schützen vorgibt“, warnt sie.
Folgekosten
Auch die Preisargumente griffen zu kurz. „Wer nur den Kassenbon sieht, blendet Folgekosten aus: Notfälle durch Schmerzmittel-Missbrauch, Klinikaufenthalte aufgrund von Interaktionen, Antibiotikafehlgebrauch, Therapieabbrüche. Prävention durch Beratung spart dem System Geld – und Leid bei Patient:innen und Angehörigen“, stellt sie klar. Dass Apotheken wirtschaftlich arbeiten müssten, stehe dazu nicht im Widerspruch. Transparente Preise, evidenzbasierte Empfehlungen und die Nicht-Abgabe, wenn es medizinisch geboten ist, gehörten zusammen.
„Arzneimittel sind keine Bonbons“
„Wir Apothekerinnen und Apotheker sind keine Gatekeeper aus Besitzstandswahrung, sondern Brückenbauer:innen zwischen Diagnose und Alltag. Wir stehen für mehr Digitalisierung (eRezept, eMedikationsplan), für noch bessere Vernetzung mit Praxen und Kliniken, für strukturierte pharmazeutische Dienstleistungen bei Polymedikation – und ja: für pragmatische Zugangswege in der Selbstmedikation, aber mit Sicherheitsnetz. Wer seriös über Reformen sprechen will, sollte nicht den Eindruck erwecken, Arzneimittel ließen sich wie Bonbons vertreiben“, betont Overwiening.
Für all diese Aufgaben und auch die Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf das Gesundheitssystem zukommen werden, braucht es mehr Apotheken, nicht weniger. Es brauche genau diese niedrigschwellig erreichbaren Heilberufler:innen mit Lotsenfunktion im Gesundheitswesen und eine verlässliche Finanzierung der Gemeinwohlaufgaben.
„Dann wird aus Polemik Versorgung. Für die Menschen in Westfalen-Lippe und in ganz Deutschland“, schließt Overwiening.