Interview Erik Tenberken (DAH²KA)

HIV-Versorgung vor dem Kollaps Patrick Hollstein, 07.08.2015 09:18 Uhr

Berlin - 

Weil die Hersteller auf ganzer Linie sparen, kommt es immer wieder zu Lieferengpässen. Besonders dramatisch ist die Lage derzeit im Bereich der HIV-Medikamente. Erik Tenberken ist Inhaber der Kölner Birken-Apotheke und – neben Frau Magdalene Linz und Dr. Gregor Müller – Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter Apotheken (DAH²KA). Seiner Meinung nach muss die Politik die Unternehmen zu einer angemessenen Lagerhaltung verpflichten. Ansonsten sei die Versorgung von Aids-Patienten über kurz oder lang in Gefahr.

ADHOC: Welche HIV-Päparate sind derzeit defekt?
TENBERKEN: Derzeit sind Kaletra, Triumeq und Stribild in bestimmten Packungsgrößen nicht oder nur eingeschränkt lieferbar. Gefehlt haben in diesem Jahr aber schon Präparate wie Norvir, Celsentri, Retrovir, Tivicay und Isentress.

ADHOC: Wie neu ist das Phänomen?
TENBERKEN: Lieferprobleme in diesem Ausmaß gab es bislang nicht. Früher haben wir Medikamente, die bestellt wurden, auch erhalten. Die aktuelle Situation ist untragbar. Wenn es so weitergeht, wird die Versorgung irgendwann zusammenbrechen.

ADHOC: Woher kommen die Probleme?
TENBERKEN: Wir Apotheker laufen Gefahr, im Spannungsfeld zwischen Krankenkassen, Großhandel, Pharmaindustrie und unserer Pflicht gegenüber unseren Patienten zerrieben zu werden. Vereinfacht kann man sagen: Weil die Produkte teuer sind, wird die Lagerhaltung auf uns Apotheker abgewälzt. Das ist mit den heutigen Fixzuschlägen aber nicht finanzierbar.

ADHOC: Wie muss man sich das vorstellen?
TENBERKEN: Unser Markt ist relativ umgrenzt. Es gibt etwa 30 Präparate, darunter einige Goldstandards wie Truvada oder Combivir, die sozusagen das Rückgrat der Versorgung darstellen. Diese Produkte sind höherpreisig, sodass der Großhandel daran kein Interesse hat. Aber selbst wenn man einen Anbieter findet, riskiert man mit der Bestellung dieser höherpeisigen Präparate bis 1200 Euro seinen Packungsdurchschnitt und damit einen Malus für den gesamten Einkauf.

ADHOC: Bleibt das Direktgeschäft.
TENBERKEN: Wir kaufen seit Jahren gemeinsam ein und helfen uns nicht nur gegenseitig, sondern auch kleineren Apotheken, die sich das nicht leisten können. Aus unserer Sicht sollten alle Apotheken in der Lage sein, HIV-Patienten zu versorgen und nicht nur einige wenige Spezialanbieter. Gleichzeitig haben wir so die Möglichkeit, die Herkunft selbst zu kontrollieren und Fälschungen auszuschließen. Aber wirtschaftlich interessant ist das nicht: Die Hersteller haben die Skonti massiv gekürzt, die Retourenregelungen sind eine Katastrophe. Wir müssen also in Vorleistung gehen, um überhaupt die Versorgung zu gewährleisten. Das kann es doch nicht sein.

ADHOC: Wie kommt es zu Lieferengpässen?
TENBERKEN: Gerade die teuren und seltenen Präparate produziert die Industrie vielfach auf Forecast. Da können die derzeit steigenden Neuinfektionen oder -diagnosen schnell zum Problem werden. Aber gerade Spezialpräparate müssen oft kurzfristig verfügbar sein. Ich hatte in dieser Woche eine Verordnung von Prezista als Suspension für einen Patienten im Endstadium, der die Tabletten nicht mehr schlucken kann. Das Präparat war in Deutschland nicht vorrätig und musste erst per Sonderbote aus Belgien beschafft werden.

ADHOC: Gibt es keine Reserven?
TENBERKEN: Die Industrie geht wohl davon aus, dass dies in der Verantwortung der Apotheken liegt. Deswegen wird kaum noch Ware in Deutschland vorrätig gehalten. Das ist nicht die Schuld der deutschen Niederlassungen, wo die Mitarbeiter nach meinen Erfahrungen sehr bemüht sind, sondern vielfach Konzernvorgabe. Nur: Wir Apotheken sind genauso wenig in der Lage, aus unserer Marge die Lagerhaltung zu finanzieren – abgesehen davon, dass wir nur das einkaufen können, was uns zugestanden wird.

ADHOC: Welchen Sinn machen Kontingentierungen?
TENBERKEN: Dass Ware extrem knapp zur Verfügung gestellt wird, bringt Einsparungen und soll außerdem Schiebereien verhindern. Deutschland ist nämlich längst kein Hochpreisland mehr. Die Unternehmen wollen verhindern, dass Ware abgezogen wird.

ADHOC: Welche Rolle spielen Reimporte?
TENBERKEN: Natürlich ist die Importquote auch für uns eine Last, die die Lagerkosten erhöht. Aber für die Versorgung sind Reimporte eine wichtige Alternative, wenn der Originalhersteller nicht liefern kann oder will. Allerdings finden wir es wichtig, dass die Lieferanten uns helfen, Fälschungen auszuschließen, und den von uns entwickelten Herkunftsicherstellungsbogen ausfüllen. Einige Importeure sind erfreulicherweise dabei, andere Lieferanten weigern sich, dieser Forderung nachzukommen. Kohl und Orifarm haben unter anderem als Folge Rückstellmuster eingeführt.

ADHOC: Wie oft müssen Sie HIV-Patienten wieder nach Hause schicken?
TENBERKEN: Dass wir kapitulieren mussten, ist noch nicht vorgekommen. Wir haben uns auf diesen Bereich spezialisiert und können einen gewissen Bedarf vorrätig halten. Bis jetzt ist es uns auch immer gelungen, Ware zu besorgen. Aber Improvisieren gehört mittlerweile zum Alltag. Der Arbeitsaufwand hat sich gefühlt verdoppelt, da liegen manchmal die Nerven blank.

ADHOC: Kennen Sie ähnliche Zustände in anderen Spezialbereichen?
TENBERKEN: Wir liefern auch Onkologika, aber in der HIV-Versorgung sind die Probleme besonders eklatant. Hier kristallisiert sich derzeit das Problem, das in der einen oder anderen Ausprägung den gesamten Arzneimittelmarkt betrifft oder in Zukunft betreffen wird.

ADHOC: Was sind Ihre Forderungen?
TENBERKEN: Es gibt keinen alleinigen Schuldigen, insofern sind alle Parteien gefragt, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. Die Politik sollte die Hersteller zu einer gewissen Lagerhaltung verpflichten, die Kassen sollten die Daumenschrauben lockern und die Firmen sollten dafür sorgen, dass genügend Ware vorhanden ist. Wir sind in Kontakt mit den Unternehmen und sehen auch Gesprächsbereitschaft. Aber es müssen dringend alle Interessenvertreter an einen Tisch.