Kommentar

Luftnummer über Luftrezepte Alexander Müller, 09.05.2016 10:55 Uhr

Berlin - 

Damit keine Missverständnisse entstehen: „Luftrezepte“ mit den Kassen abzurechnen, ist Betrug und soll bestraft werden. Bereichern sich Apotheker auf diese Weise, schädigen sie nicht nur die Solidargemeinschaft, sondern auch den Ruf aller anständig arbeitenden Kollegen. Wie schnell und wie scharf bei aufgedeckten Einzelfällen auf den gesamten Berufsstand geschossen wird, bekamen die Apotheker am Wochenende mal wieder zu spüren. Und zwar alle. Ein Kommentar von Alexander Müller.

Wenn das Wochenende lang und das Wetter schön ist, kann man im Zweifel immer ein paar Apotheken schlachten. In der Sonn- und Muttertagsausgabe der „Welt“ durften die Apotheker im Wirtschaftsteil übergroß das Wort Abzocke lesen – mit dem Apotheken-A als Anfangsbuchstabe. Die Meldung wurde von den Agenturen aufgenommen und lief über alle Kanäle. Das Springerblatt „WamS“ hat sich mit der gewählten Aufmachung die Aufmerksamkeit gesichert.

Solche Geschichten entstehen bei Bedarf offenbar am Reißbrett: Man nimmt einen Einzelfall, zitiert den ermittelnden Staatsanwalt, befragt Professor Glaeske und einen schneidigen Kassenchef und nimmt als Referenzsumme auf jeden Fall die gesamten Arzneimittelausgaben.

Der Betrug ist ein Skandal, der maximal skandalisiert wird. Dass bundesweit Staatsanwaltschaften gegen Apotheken ermitteln, kann man als Fakt unterstellen. Überraschend ist auch das nicht. Genauso werden bundesweit Staatsanwaltschaften gegen Ärzte und Gemüsehändler ermitteln. Das ist nämlich der Beruf der Staatsanwälte.

Wenn eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft in sieben Jahren 66 Fälle mit Apotheken gesammelt hat, sind das keine zehn Fälle pro Jahr. Unerwähnt bleibt, dass sich die Fälle auf ein Dutzend Apotheker verteilen. Bei immer noch mehr als 20.000 Apotheken kann jeder Leser die Zahlen ins Verhältnis setzen und entscheiden, ob das viel oder wenig ist. Der obligatorische Verweis auf die bestimmt viel höhere Dunkelziffer ist unausweichlich und wird bei jedem Skandal, egal welcher Art, zum Dauertiefpreis angeboten.

Aber wie die „WamS“ im Beitrag ihre Zahlen frisiert, das ist schon beachtlich: Zunächst besteht die bundesweite Abzocke konkret aus Berichten über zwei Fälle, in denen die Ermittlungen jeweils seit Jahren laufen. Bei der Geschichte, die als Aufhänger taugt, sollen eine Ärztin, ihr „Liebhaber“ und ein Apotheker ein Betrugsmodell entwickelt haben, „dass ihnen innerhalb von neun Monaten mehr als 1,6 Millionen Euro eingebracht haben soll“.

So geht die Story los. Später im Beitrag wird dann aufgeklärt, dass die Apotheke mit der betroffenen Praxis insgesamt Rezepte im Wert von 1,6 Millionen Euro abgerechnet hat. Wie viel von dieser Summe auf den mutmaßlichen Betrug entfallen, dazu gibt es keine Zahlen. Im anderen vorgestellten Fall soll der Apotheker mit „HIV-Abhängigen“ (sic!) gemeinsame Sache gemacht haben.

Der zitierte Oberstaatsanwalt Alexander Badle sagt auf Nachfrage, dass seine Behörde Einzelfälle prüfe. Den Eindruck, dass der ganze Berufsstand verseucht sei, hat er nicht. Er sieht – wie die ABDA – das Problem, dass einzelne schwarze Schafe die ganze Herde in Verruf bringen.

Deswegen verteidigen die Kollegen solche Betrugsfälle auch nicht, weder öffentlich, noch in privaten Gesprächen. Und es gibt keinen Anlass zu der Annahme, die Mehrheit oder auch nur eine große Zahl von Apotheken würde die Kassen absichtsvoll hintergehen. Wieso soll man nicht annehmen dürfen, dass die Ermittlungsbehörden gute Arbeit leisten? Die von der WamS aufgebauschten 1,6 Millionen Euro wurden zwischen Februar und Oktober 2009 abgerechnet. „Ende 2009“ hat die Staatsanwaltschaft laut Bericht ihre Ermittlungen aufgenommen.

Dass das GKV-System, wie Glaeske postuliert, allein wegen des „Scheck-Systems“ Papierrezept besonders betrugsanfällig sei, ist daher ein nicht weiter belegter Allgemeinposten. Die Rezepte werden digitalisiert – und dass die Kassen bei der Prüfung sonderlich schludrig wären, spiegelt nicht den Erfahrungshorizont der Apotheker wider. Hinzu kommen digitale Betriebsprüfungen, bei denen die Apotheken mittlerweile komplett die Hosen herunter lassen müssen. Dieses System erfolgreich zu betrügen, erfordert in Wahrheit einen immensen Aufwand und einen nicht unerheblichen Vorrat an krimineller Energie. Dass diese Hürden in Einzelfällen genommen werden, ist unbestritten, dass dies üblich ist, muss vehement bestritten werden.