Potenzmittel könnte rezeptfrei werden

Sildenafil: BMG prüft OTC-Switch Patrick Hollstein, 04.10.2022 10:00 Uhr

BMG-Abteilungsleiter Thomas Müller kann sich einen OTC-Switch für Sildenafil vorstellen. Foto: Andreas Domma
Berlin - 

Eigentlich hatte sich der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht im Januar gegen einen OTC-Switch für Präparate mit dem Wirkstoff Sildenafil ausgesprochen. Doch im Bundesgesundheitsministerium (BMG) denkt man offenbar trotzdem darüber nach, die Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) diesbezüglich zu ändern – was ein Novum wäre.

Bei der Jahrestagung des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) wurde auch über das Thema OTC-Switches diskutiert. Dabei überraschte Thomas Müller, Leiter der Abteilung „Arzneimittel, Medizinprodukte, Biotechnologie“ im BMG, mit der Aussage, dass er sich eine Entlassung von Sildenafil in die Selbstmedikation vorstellen könne. In Müllers Zuständigkeitsbereich fällt nicht nur die AMVV; er ist auch von Hause aus Arzt und Apotheker mit jahrelanger Klinikerfahrung – seine fachliche Einschätzung hat Gewicht. Auf Nachfrage, ob es bereits konkrete Pläne gebe, bestätigte eine BMG-Sprecherin: „Diese Fragestellung wird geprüft.“

Das kommt überraschend, denn erst vor einem halben Jahr hatte sich der Sachverständigenausschuss gegen einen entsprechenden Antrag für die Dosierung à 50 mg ausgesprochen. Bindend ist das Votum der Expertinnen und Experten nicht, denn alleine das BMG kann entscheiden, ob es die AMVV ändert oder nicht. Meist folgt das Ministerium den Empfehlungen oder setzt sie in Ausnahmefällen aus politischen Gründen nicht um – dass es entgegen der Meinung des Sachverständigenausschusses einen Wirkstoff freigibt, hat es noch nicht gegeben.

Die Empfehlung im Januar war einstimmig. Während der Hersteller argumentierte, dass Sildenafil eine untoxische Substanz sei und auch bei massiver Überdosierung keine drastischen Nebenwirkungen habe, machte insbesondere das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Bedenken geltend.

Sorge wegen Sexpartys

Gemäß den Leitlinien werde eine adäquate ärztliche Diagnostik, Beratung und abwägende Therapieentscheidung bei erektiler Dysfunktion (ED) als erforderlich angesehen, so der Vertreter der Behörde. Die voraussichtlich längerfristige Anwendung – unter Umständen mit Dosistitration – spreche gegen den OTC-Status. Obendrein sei ein erhebliches Missbrauchsrisiko vorhanden – ohne Rezeptpflicht sinke die Schwelle für eine Anwendung etwa durch junge Männern ohne ED. Hier wurde eine psychische Abhängigkeit verwiesen und den Einsatz beim „Chemsex“ – „im Rahmen von z. B. Sexpartys, um lang andauernde sexuelle ‚Einsatzfähigkeit‘ zu ermöglichen und Impotenz-verursachende Wirkung anderer Substanzen wie Kokain, Antidepressiva zu ‚neutralisieren‘“.

Die vom Hersteller vorgeschlagenen Schulungsmaterialien wurden von den Experten nicht als Lösung gesehen, da diese nicht abschließend über die AMVV geregelt werden könnten und außerdem zu bezweifeln sei, dass die Präparate tatsächlich nur in den Apotheken vor Ort verkauft würden. Verwiesen wurde auf eine erhebliche Anzahl von schwerwiegenden – insbesondere kardialen – Nebenwirkungen in klinischen Studien; die wenigen eingegangenen Nebenwirkungsberichte sprächen eher für eine hohe Dunkelziffer aufgrund missbräuchlicher Anwendung. Die bestehenden Kontraindikationen wiederum erforderten eine ärztliche Abklärung, die durch Apotheker nicht vorgenommen werden könne, so die Experten.

Und schließlich wurde noch angemerkt, dass zentral zugelassene Arzneimittel von einer nationalen Änderung der
Verkaufsabgrenzung nicht betroffen wären und dass es fraglich erscheine, Sildenafil 25 mg mit gleicher Indikation weiterhin verschreibungspflichtig zu lassen.

In anderen Ländern ohne Rezept

In anderen europäischen Ländern – Großbritannien, Norwegen, Irland, Polen, Schweiz – können Viagra & Co. schon seit einigen Jahren ohne Rezept bezogen werden. Teilweise ist vorgeschrieben, dass die Apotheker:innen speziell geschult wurden, sodass eine ausführliche Beratung durch das pharmazeutische Personal möglich ist. In Polen müssen Männer, die das Potenzmittel kaufen wollen, außerdem einen Fragebogen ausfüllen. Denkbar ist, dass auch hierzulande Vorgaben für den Verkauf in der Selbstmedikation gemacht werden.

Viagra kam am 1. Oktober 1998 auf den deutschen Markt. Das Mittel wurde schnell zum Kassenschlager und sorgte dafür, dass Erektionsstörungen nicht länger als Tabuthema behandelt wurden. Der Phosphodiesterasehemmer war das erste Produkt in seiner Indikation: Lilly kam mit Cialis (Tadalafil) erst im Februar 2003 auf den Markt, Bayer mit Levitra (Vardenafil) sechs Wochen später. Das Patent für Sildenafil lief 2013 ab, Tadalfil ist seit 2017 nicht mehr patentgeschützt, Generika mit Vardenafil gibt es seit 2018.

Sildenafil liegt vorn

Nach Zahlen des Marktforschungsunternehmens Insight Health wurden im vergangenen Jahr bis einschließlich November in den Apotheken knapp 2,4 Millionen Packungen an Mitteln gegen Erektionsstörungen verkauft, ein Plus von 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der Regel werden die Präparate auf Privatrezept verschrieben, nur in seltenen Fällen übernehmen die Krankenkassen die Kosten.

Auf Sildenafil entfallen 55 Prozent aller Packungen, führende Hersteller sind 1A Pharma mit einem Marktanteil von 24 Prozent sowie Aristo und AbZ mit 11 beziehungsweise 10 Prozent. Viagra spielt mit knapp 20.000 Packungen zwar nur eine untergeordnete Rolle, allerdings konnten die Abverkäufe gegenüber dem Vorjahr verdoppelt werden. Vor zwei Jahren brachte Pfizer das Altoriginal in das unter Viatris firmierende Joint Venture mit Mylan ein.

Auf Tadalafil entfallen 36 Prozent aller Packungen, auf Vardenafil 4 Prozent.

Blockbuster als Zufallstreffer

Pfizer hatte mehr als 13 Jahre in die Forschung und Entwicklung von Viagra investiert. An dem Prozess waren laut Konzernangaben mehr rund 1500 Mitarbeiter:innen beteiligt. Eigentlich sollte Sildenafil gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingesetzt werden. In einer Studie mussten die Wissenschaftler jedoch zur Kenntnis nehmen, dass einige Teilnehmer von einer stärken Tendenz zu Erektionen berichteten.

Dabei hatte Bayer bereits in den frühen 1990er Jahren die Entdeckung gemacht, dass Vardenafil eine potenzsteigernde Wirkung hat. Die Forscher:innen waren jedoch auf der Suche nach einem neuen Herz-Kreislauf-Medikament; für ein Potenzmittel war der Konzern offenbar aus ethischen Gründen noch nicht bereit. Erst als Pfizer mit Viagra auf den Markt kam, zog man in Leverkusen umgehend nach.

Zweiter Anlauf

2008 hatte Pfizer bereits einen Antrag auf Entlassung von Sildenafil aus der Rezeptpflicht bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eingereicht, war aber auf Bedenken gestoßen und hatte ihn zurückgezogen.

Sildenafil ist ungefähr eine Stunde vor dem Geschlechtsverkehr einzunehmen. Je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit kann die Dosis auf 100 mg erhöht oder auf 25 mg verringert werden.