Paraplegie

Antikörper könnte Lähmung heilen Dr. Kerstin Neumann, 30.03.2016 14:14 Uhr

Berlin - 

Eines Tages aus dem Rollstuhl aufstehen – diesem Traum sind Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich ein Stück näher gekommen. Das Team um den Neurobiologen Professor Dr. Martin Schwab hatte bereits in Tierversuchen mit einem Antikörper gelähmte Gliedmaßen wieder funktionstüchtig machen können. Nun sind die ersten klinischen Studien an Menschen abgeschlossen – mit vielversprechenden Ergebnissen.

Schwab untersucht seit mehr als 20 Jahren, warum Nervenfasern in den Armen oder Beinen nach einer Verletzung wieder heilen, im zentralen Nervensystem dagegen nicht. Er konnte zeigen, dass sich im Rückenmark an den zerstörten Stellen ­eine Art Narbengewebe bildet, das für Nerven undurchdringlich ist. Offenbar steht der Körper der Heilung also selbst im Weg.

Die Züricher Forscher fanden in weitergehenden Untersuchungen eine körpereigene Substanz, die das Wachsen der Nervenfasern verhindert: Ein Protein, welches den Namen Nogo-A erhielt. Wenn man diese Hemmung aufheben könnte, so die Idee, würden die Nerven­fasern von allein heilen können. Die Neurobiologen entwickelten einen spezifischen Antikörper, den sie in Tierversuchen testeten – mit großem Erfolg. Ratten, die mit der Substanz behandelt wurden, konnten nach der Behandlung und anschließendem Bewegungstraining wieder laufen.

Jetzt ist die erste Studie an Menschen abgeschlossen – und auch hier hat sich der Ansatz offenbar bewährt. Es seien sehr gute Resultate erzielt worden, so die Wissenschaftler. Der Antikörper wurde 52 Frischverletzten direkt ins Rückenmark gespritzt, wobei die Dosis nach und nach erhöht wurde. Es zeigten sich keine Nebenwirkungen – ebenso wie in den Tierversuchen an Ratten und Makaken zuvor.

Für eine fundierte Beurteilung des therapeutischen Erfolgs seien die Studienergebnisse noch nicht geeignet, so die Forscher. Dafür seien Studien der Phase II und III notwendig. In der Phase I wird vor allem die Sicherheit des Medikamentes geprüft und die therapeutische Dosis ermittelt. Für die Studienteilnehmer sei die Dosis teilweise zu gering gewesen, außerdem habe es sich um eine sehr heterogene Gruppe gehandelt. Immerhin: „Es gibt Hinweise auf eine ­positive Wirkung“, sagt Schwab. Bei fast der Hälfte der Patienten sei der Heilungsprozess deutlich besser verlaufen als bei anderen ohne Antikörper-Therapie.

Die zweite Phase klinischer Studien wird von der EU mit sieben Millionen Euro unterstützt. Ab diesem Frühjahr sollen 180 Patienten in sieben führenden europäischen Paraplegie-Kliniken mit dem Nogo-Antikörper behandelt werden. Beteiligt sind auch die deutschen Kliniken in Heidelberg, Murnau und Bayreuth.

Schwab und seine Kollegen rechnen damit, dass sich nach vier Wochen bis sechs Monaten eine positive Wirkung einstellt, also Nerven des Rückenmarks nachwachsen und neue, funktionell sinnvolle Schaltkreise aufbauen. Erst dann kann eine Einschätzung erfolgen, wie erfolgversprechend die Behandlung mit dem Antikörper tatsächlich ist.

Theoretisch sei es möglich, dass die Patienten eine Vielzahl von Körperfunktionen zurückgewinnen, so die Forscher. Betroffen sein könnte beispielsweise die Beweglichkeit von Händen, Armen oder Beinen, die Steuerung der Blase oder der Atmung. Stellen sich die erhofften Erfolge ein, ist eine anschließende Rehabilitation unerlässlich, weil der Patient erst wieder lernen muss, seinen Körper zu beherrschen.

Nogo scheint neben seiner Rolle in der Paraplegie-Behandlung auch Potenzial für ein weiteres Krankheitsbild zu besitzen: Schwab und seine Kollegen haben herausgefunden, dass der Antikörper auch Schlaganfall-Patienten helfen könnte. Bei Tierversuchen ließen sich durch die Behandlung mit Nogo verlorene feine Handfunktionen komplett wiederherstellen.

Erstaunlich sei, dass der Zeitpunkt, zu dem die Therapie einsetzt, so gut wie keine Rolle spiele, so die Forscher. Ratten reagierten sogar noch sechs Monate nach dem Schlaganfall, ­einem Viertel ihrer Lebenszeit, auf die Behandlung. Bei einer Querschnittslähmung ist das anders. Hier muss der Eingriff erfolgen, bevor sich das Narbengewebe im Rückenmark gebildet hat. Dieses Zeitfenster schließt sich laut Schwab beim Menschen nach rund 30 Tagen.