Medikamententest

Das Drama von Rennes dpa, 17.01.2016 17:04 Uhr

Rennes - 

Der nach einem Medikamententest in Frankreich für hirntot erklärte Mann ist gestorben. Dies gab die Uniklinik von Rennes am Sonntag bekannt, ohne weitere Details zu nennen. Der Gesundheitszustand der weiteren fünf ins Krankenhaus gebrachten Versuchsteilnehmer sei unverändert.

Vier von ihnen haben nach früheren Angaben neurologische Beschwerden, bei dreien fürchten die Ärzte sogar bleibende Schäden. Ein weiterer Mann hat keine Symptome, ist aber zur Beobachtung im Krankenhaus. Die Männer hatten an einer klinischen Studie für die Zulassung eines neuen Wirkstoffs teilgenommen, der nach den dramatischen Folgen abgebrochen wurde. Noch ist nicht geklärt, wie es zu dem Drama kam, die französischen Behörden ermitteln. Und das Schicksal weiterer Patienten ist noch offen.

Wie geht es den Versuchsteilnehmern?
Die Auswirkungen sind dramatisch. Ein Mann fiel hirntot ins Koma und starb am Sonntag. Vier weitere leiden unter neurologischen Beschwerden, der sechste Teilnehmer hat keine Symptome. Die Ärzte berichteten von Hirnblutungen und Zellschädigungen, ohne genau zu sagen, wen dies betrifft. Bei drei Männern fürchten sie aber möglicherweise bleibende Schäden. Weil der Wirkstoff sich in Phase 1 der klinischen Studie befand, also erstmals am Menschen getestet wurde, gibt es auch keine Erfahrungswerte zur Behandlung.

„Wir versuchen, die Entzündungsreaktion mit Medikamenten zu kontrollieren“, sagte Professor Dr. Gilles Edan vom Uniklinikum Rennes, wo die Patienten nach den ersten Symptomen eingeliefert wurden. „Aber das Gegenmittel dieses Medikaments ist heute nicht bekannt.“ Auch eine Prognose konnte er deshalb zunächst nicht abgeben – am Sonntag hieß es, ihr Zustand sei unverändert.

Welches Medikament wurde getestet?
Der portugiesische Hersteller Bial spricht von einem Wirkstoff „im Schmerzbereich“. Konkret handelt es sich um einen Enzymhemmer, der am Endocannabinoid-System im Nervensystem ansetzt. „Dieser Wirkstoff zielt auf die Behandlung von Stimmungs- und Angststörungen sowie motorischen Störungen, die mit neurodegenerativen Erkrankungen verknüpft sind“, sagte Frankreichs Gesundheitsministerin Marisol Touraine. „In dieser Phase bleiben die Indikationen eines Medikaments sehr allgemein.“

Bial nannte den Namen des Wirkstoffs in seiner Stellungnahme nicht. Auf seiner Webseite führt es lediglich zwei Medikamente in Test-Phase 1, von denen nur die Kurzbeschreibung von „BIA 10-2474“ auf das in Rennes verwendete Medikament passt. Als Anwendung werden dort „neurologische und psychiatrische Erkrankungen“ angegeben. Auch französische Medien nennen diesen Namen.

Waren die Männer die ersten, die den Wirkstoff geschluckt haben?
Nein. Die klinische Studie begann bereits im vergangenen Juli. Seitdem haben insgesamt 90 Menschen das Medikament zu sich genommen – die übrigen 84 hatten keine Beschwerden, sie wurden vorsorglich zu Untersuchungen bestellt. 18 weitere erhielten ein Placebo. Anfangs wurde den Versuchsteilnehmern nur eine Dosis verabreicht, die jetzt Betroffenen nahmen es dagegen mehrfach. Nach Angaben der behandelnden Ärzte hatte keine andere Testgruppe eine so hohe Dosis bekommen.

Was ist der Grund für die Entwicklung?
Klar ist bislang nur, dass die Beschwerden „offensichtlich mit der Einnahme des Medikaments“ zusammenhängen, wie Professor Edan sagte. Offen sei, ob es sich um eine direkte Auswirkung auf das Nervensystem handelt oder ob eine Immunreaktion auftrat. „Derzeit befinden wir uns weiter im Rahmen von unvorhersehbaren, ungeklärten und unerklärlichen Ereignissen“, sagte François Peaucelle, der Geschäftsführer von Biotrial – dem Unternehmen, das die Studie in Rennes durchgeführt hat. Auch Gesundheitsministerin Marisol Touraine hatte am Freitag erläutert, die genauen Gründe seien noch unklar: „Ist es der Wirkstoff an sich, ist es die Dosierung?“

Wie wird das Drama jetzt aufgearbeitet?
In Frankreich laufen gleich drei Untersuchungen. Die Justiz ermittelt, außerdem sind unabhängig davon zwei Regierungsbehörden aktiv geworden: Die Behörde für Medikamentensicherheit und die Generalinspektion für das Sozialwesen. Sie sollen prüfen, ob alle Vorschriften eingehalten wurden – Medikamententests sind streng reglementiert. Gesundheitsministerin Touraine will vor Monatsende erste Ergebnisse, der Bericht soll bis Ende März fertig sein. Bial und Biotrial betonen, dass sie sich an die Vorgaben gehalten haben.

Wie häufig treten solche Probleme bei Pharma-Tests auf?
Extrem selten. „Der Schock ist umso größer, als Unfälle von solcher Schwere bislang scheinbar nicht dokumentiert sind“, sagte Touraine. „Zu diesem Zeitpunkt ist mir kein vergleichbares Ereignis bekannt.“ Auch deutschen Experten fällt nur ein Vorfall aus dem Jahr 2006 in Großbritannien ein, bei dem mehrere Teilnehmer tagelang in Lebensgefahr schwebten – danach wurden die Regeln verschärft.

Bevor Medikamente am Menschen erprobt werden, gibt es unter anderem Tierversuche. In diesem Fall wurde der Wirkstoff auch an Schimpansen getestet. In Deutschland werden jedes Jahr rund 1000 Studien angemeldet, ein arzneimittelbezogener Todesfall in einer klinischen Prüfung bei gesunden Freiwilligen wurde noch nie registriert.