Jährlich drei bis vier Prozent mehr Erkrankungen

Kinder-Diabetes immer häufiger dpa, 15.08.2021 12:01 Uhr

Auch die Jüngsten: Laut Deutscher Diabetes Gesellschaft (DDG) leiden immer mehr Kinder an Diabetis mellitus Typ 1. Foto: Syda Productions/shutterstock.com
Berlin - 

Wenn Kinder viel trinken und häufig auf die Toilette müssen, sollten bei Eltern und Ärzten die Alarmglocken schrillen, denn die Kinder könnten Diabetes haben. Häufig wird die Krankheit erst sehr spät erkannt. Laut Deutscher Diabetes Gesellschaft (DDG) nimmt die Zahl von Kindern mit Diabetis mellitus Typ 1 kontinuierlich zu – warum das so ist, ist bisher unbekannt.

Es ist ein ungelöstes Rätsel: In Deutschland erkranken immer mehr Kinder und Jugendliche an Diabetes mellitus Typ 1, also der Form von Diabetes, die nicht mit ungesunder Ernährung oder Bewegungsmangel in Verbindung steht. Die Erkrankungsrate steigt laut DDG jedes Jahr um drei bis vier Prozent, besonders kleine Kinder sind betroffen. „Woran das liegt, wissen wir nicht“, sagt Andreas Neu, DDG-Präsident und Kommissarischer Ärztlicher Direktor der Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie an der Kinderklinik Tübingen.

Diabetes werde häufig mit höherem Lebensalter, Übergewicht und Bewegungsmangel assoziiert. Dass auch völlig gesunde, aktive Kinder und Jugendliche Diabetes bekommen können, sei vielen Menschen nicht klar. Plötzlich hört der Körper auf, das lebensnotwendige Insulin in ausreichender Menge zu produzieren, die jungen Patienten sind ihr Leben lang von Insulin-Spritzen oder -Pumpen abhängig. Laut DDG leben in Deutschland schätzungsweise 30.000 bis 32.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahren mit der Autoimmunerkrankung.

Auch die Berlinerin Anne Adam hätte nicht gedacht, dass ihr Sohn Oskar mit gerade einmal 14 Monaten betroffen sein könnte. „Nach einer langwierigen Ohrenentzündung trank er plötzlich bis zu drei Liter Wasser pro Tag“, erinnert sich die Mutter. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt habe sie damit vertröstet, dass sich der Junge wahrscheinlich vom langen Heilungsprozess erhole. Doch als Oskar eines Tages 15 Stunden am Stück schlief, kaum noch zu wecken, apathisch und kraftlos war, fuhr sie mit ihm in eine Klinik. „Sehr schnell bekamen wir dort die Diagnose Diabetes Typ 1“, erinnert sich die 38-Jährige, die ihre Erfahrungen auch auf Instagram teilt.

„Die Symptome können auch bei anderen Krankheiten oder jahreszeitbedingt auftreten. Deshalb braucht es oft einige Zeit, bis Eltern bewusst wird, dass ihr Kind die Krankheit haben könnte“, sagt Andreas Neu. Viel zu trinken sei zum Beispiel im Sommer normal. Häufiges Wasserlassen könnten Eltern gerade bei Kita- und Schulkindern gar nicht immer mitbekommen. Auch der typische Gewichtsverlust falle nicht immer sofort auf und ein Leistungsknick mache sich bei größeren Kindern oft erst am Schuljahresende beim Zeugnis bemerkbar, so Neu über die klassischen Symptome. Werden diese zu spät erkannt, kann es zu einer gefährlichen Stoffwechselentgleisung, der diabetischen Ketoazidose kommen. Durch den Insulinmangel entstehen Ketonkörper – Stoffwechselprodukte, die das Blut übersäuern und zum Koma führen können. „Das ist potenziell lebensbedrohlich. Da zählen Stunden“, so Neu.

Im Pandemiejahr 2020 sind mehr Eltern als üblich verspätet mit ihren Kindern zum Arzt gegangen – mit gefährlichen Folgen: Die Zahl der Ketoaizodosen hat sich laut einer Studie im Vergleich zu den Vorjahren signifikant erhöht. Der Gießener Kinder- und Jugendmediziner Clemens Kamrath und weitere Forscher haben zunächst die Daten von 532 Kindern und Jugendlichen, die zwischen Mitte März und Mitte Mai an Diabetes Typ 1 erkrankten, mit denen von 2018 und 2019 verglichen.

2020 lag der Anteil der Kinder, die zum Zeitpunkt der Diagnose eine Stoffwechselentgleisung hatten, in dem Zeitraum bei rund 45 Prozent, 2019 bei 25 Prozent und 2018 bei 24 Prozent. In einer weiteren Studie fanden Kamrath und Kollegen heraus, dass das Risiko auch über den Sommer 2020 signifikant erhöht war. Über die Ursachen lasse sich nur mutmaßen. Ein möglicher Grund sei, dass Eltern aus Angst vor einer Corona-Infektion Arztpraxen und Krankenhäuser später aufsuchten als sie es vor der Pandemie getan hätten, so Kamrath. „Auch Oskar hatte schon zu hohe Ketonwerte und er musste drei Tage lang auf der Intensivstation bleiben. Mein kleiner Schatz lag da, komplett verkabelt“, erinnert sich die Mutter des heute fast Vierjährigen, der seit nunmehr fast drei Jahren über eine Pumpe regelmäßig eine Grundmenge Insulin bekommt. Ein Sensor misst dafür den Blutzuckerspiegel. Zu den Mahlzeiten muss Oskar das Hormon je nach Essensmenge noch zusätzlich bekommen. Eltern und Kita-Erzieher müssen dann jeweils berechnen, wie viel Insulin Oskar braucht und über eine Fernbedienung die Menge für die Pumpe einstellen.



Der Alltag sei nun deutlich komplizierter. „Diabetes ist ein 24-Stunden-Job, sieben Tage die Woche. Wir müssen immer präsent und aufmerksam sein, auch nachts, wenn die Pumpe Alarm schlägt, weil die Blutzuckerwerte ungünstig sind“, so Adam. In der Kita habe sie die Erzieher in Sachen Diabetes geschult und bleibe trotzdem immer ansprechbar. „In der ersten Zeit klingelte das Telefon gefühlt 50 mal täglich“, so die freiberufliche Designerin. Sie sei aber froh, dass sie den Kitaplatz schon vor der Diagnose sicher hatten und einige Erzieherinnen sich sehr um Oskar bemühten und ihn immer im Blick hätten. „Schließlich kann zum Beispiel beim Spielen der Blutzuckerspiegel schnell sinken, wenn Oskar sich viel bewegt. Auch das ist gefährlich, dann bekommt er Traubenzucker oder Obst“, so die Mutter. Den Kitaplatz hätte Oskar laut Kitaleiterin mit der Diagnose nicht bekommen, so die Mutter. „An die Schule mag ich noch gar nicht denken.“ Einen Schulplatz zu bekommen sei nicht so problematisch wie mitunter einen Kitaplatz, berichtet Sandra Neumann, Leiterin der Berliner Selbsthilfegruppe „Diafüchse“ und Mitarbeiterin der Deutschen Diabetes-Hilfe. „Staatliche Schulen müssen Kinder mit Diabetes aufnehmen, da Schulpflicht besteht“, so Neumann. Doch auch in Schulen sei die Betreuung der Kinder durch Schulhelfer oder Integrationsfachkräfte nicht immer gesichert. „Manchmal müssen die Mütter in den ersten Jahren mit in die Schule kommen“, berichtet sie.

„Wir fordern flächendeckend Gesundheitsfachkräfte in Schulen und Kitas, wie es sie zum Beispiel schon in Dänemark gibt“, so Andreas Neu. Auch sonst gebe es bei der Versorgung von Patienten noch Optimierungsbedarf. „Es gibt regional sehr große Unterschiede“, so Neu. Ein weiteres Problem seien Familien mit geringer Gesundheitskompetenz. „Diese brauchen zusätzliche Unterstützung“, sagt Neu. „Wir haben zudem viele Eltern mit Migrationshintergrund und geringen Deutschkenntnissen. Diese sind auch schwerer zu schulen, gerade, wenn es um komplexe Zusammenhänge geht“, so der Experte.

Unzureichend behandelt kann ein Typ-1-Diabetes schwere Folgeerkrankungen nach sich ziehen. „Es sind die gleichen, die man auch von der Volkskrankheit Diabetes Typ 2 kennt“, so Neu. Der Zucker greife mit der Zeit Augen, Nieren, Gefäße und Nerven an. „Im schlimmsten Fall treten später Blindheit und Herzinfarkt auf, auch Amputationen und Dialyse können notwendig werden“. Gerade wegen der langen Lebensdauer, die die jungen Patienten noch vor sich hätten, sei von Anfang an eine gute Behandlung nötig.Oskars Mutter Anne Adam hofft auf die Forschung und Entwicklung. „Möglicherweise gibt es in den nächsten zehn Jahren noch bessere Geräte, die Oskar das Leben noch leichter machen“, so ihre Hoffnung. Bislang stecke der Kleine aber alles gut weg. Er habe von Anfang an alles hingenommen und mache alles mit. „Nur das Kathetersetzen tut ihm immer mal wieder weh“, sagt die junge Mutter.