„Sargnagel“ für europäische Produktion? 23.06.2025 14:00 Uhr
Lieferengpässe sind längst Alltag – doch neue EU-Vorgaben könnten die Lage weiter verschärfen. Die zum Jahreswechsel in Kraft getretene Kommunalabwasserrichtlinie (KARL) sieht eine vierte Reinigungsstufe in Kläranlagen vor, die für die Unternehmen immense Kosten mit sich bringt. Vor allem bei Generika könnten Versorgungslücken drohen, wenn Hersteller zusätzliche Umweltauflagen stemmen müssen. Welche Folgen das für Apotheken und Patient:innen haben könnte und wie groß die Gefahr wirklich ist, erklären Experten im APOTHEKE Live. Hier anschauen (Aufzeichnung startet bei 1:54:00).
Im Rahmen der vierten Reinigungsstufe für Kläranlagen sollen mithilfe von neuen Technologien Mikroverunreinigen, auch Medikamentenrückstände, aus dem kommunalen Abwasser entfernt werden. Um das Vorhaben zu finanzieren, wird die Industrie – Arzneimittelhersteller und Kosmetikindustrie – in die Pflicht genommen.
Doch die schlägt Alarm, denn die dadurch entstehenden Kosten in Milliardenhöhe sind nicht zu stemmen. Das könnte auch die Arzneimittelversorgung gefährden, so die Befürchtung. Worauf sich Apotheken und Patient:innen einstellen müssen, wenn die europäischen Regelungen unverändert durchgesetzt werden, besprechen wir im APOTHEKE Live – powered by APOTHEKE ADHOC und PTA IN LOVE – mit diesen Experten:
- Dr. Elmar Kroth, der stellertretende Hauptgeschäftsführer von Pharma Deutschland,
- Josip Mestrovic, General Manager bei Zentiva und Schatzmeister im Vorstand von Pro Generika,
- Dirk Osiek, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Umweltbundesamt – unter anderem für das Fachgebiet „Übergreifende Angelegenheiten Wasser und Boden“ zuständig,
- Tim Steimle, Apotheker und Leiter des Fachbereichs Arzneimittel bei der TK.
Wer mitdiskutieren möchte, kann die Kommentarfunktion bei Youtube nutzen.
Hier geht´s zum Video. Hinweis: Die Aufzeichnung startet bei 1:54:00.
14.02 Uhr: Nadine Tröbitscher, Chefredakteurin APOTHEKE ADHOC und PTA IN LOVE, eröffnet die Veranstaltung und begrüßt die Teilnehmendem im Studio sowie die Zuschauer:innen.
Tröbitscher:
- Panikmache soll hier nicht im Fokus stehen, sondern eine Betrachtung der Regelungen der EU-Abwasserrichtlinie aus verschiedenen Perspektiven.
- Auch Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hat zuletzt deutlich gemacht, dass die vierte Reinigungsstufe wichtig sei, doch die Kosten noch einer Klärung bedürfen.
Dirk Osiek, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Umweltbundesamt:
- Pro Jahr werden aktuell hierzulande etwa 10.000 Tonnen der wichtigsten Arzneimittel beziehungsweise Wirkstoffe verbraucht. Dadurch gelangen viele Mikroschadstoffe ins Abwasser, was mit einer zunehmend alternden Gesellschaft und einem steigenden Arzneimittelverbrauch noch weiter zunehmen wird.
- Die vierte Reinigungsstufe ist daher unverzichtbar.
- Welche Wirkstoffe genau am meisten verantwortlich sind, kann das Umweltbundesamt derzeit noch nicht eindeutig sagen.
Tim Steimle, Leiter Fachbereich Arzneimittel TK:
- Die Kosten für die vierte Reinigungsstufe dürfen nicht auf die Bürger:innen umgelegt werden.
- Die errechneten Kosten der Industrie sind laut unseren Berechnungen niedriger und liegen bei lediglich rund 600 Millionen Euro.
- Die Behauptung, KARL beziehungsweise die Kostenübernahme durch die Hersteller ginge zulasten der Versorgung mit Metformin und weiteren Wirkstoffen, ist Quatsch.
- Es braucht aber eine sinnvolle Verteilung der Kosten und nicht nur einen „Verschiebebahnhof“.
- Alles auf die Bürger:innen übertragen zu wollen, ist definitiv nicht der richtige Weg.
Dr. Elmar Kroth, stellvertretender Hauptgeschäftsführer Pharma Deutschland e.V.:
- Die Berechnung der genauen Kosten ist schwierig, schätzungsweise mehr als 2 Milliarden Euro müssen einberechnet werden, um allein die Anlagen entsprechend umzurüsten, damit sie den EU-Vorgaben entsprechen.
- Außerdem ist nicht klar, dass die Pharmaindustrie als Hauptverursacher für die Mikroverunreinigungen angesehen werden kann.
- „Wir sind Teil des Problems, aber wir sind nicht allein das Problem.“
- Daher braucht es eine faire Verteilung. Es kann nicht verlangt werden, dass die Pharmaindustrie den gesamten Umsatz für die Umsetzung der Richtlinien aufwenden müsse.
- Wie viele hundert Millionen für die Pharmaindustrie noch tragbar wären, ist nicht abzuschätzen.
Josip Mestrovic, General Manager – Zentiva Pharma GmbH und Schatzmeister im Vorstand von Pro Generika
- Bisher ist rund um die neuen Vorgaben nichts klar, nur die Finanzierung beziehungsweise die Frage, wer bezahlen soll. „Die Pharmaindustrie muss einbezogen werden, aber nicht allein.“
- Ohne Planungssicherheit ist es nur schwer absehbar, wie überhaupt mit steigenden Kosten produziert werden soll, wenn wir gar nicht wissen, was auf uns zukommt.
Osiek:
- Es geht bei rund 2000 Anlagen um die Frage nach der Umrüstung/dem Ausbau.
- Auch wenn es bisher in Sachen Toxizität der Wirkstoffe noch Unklarheiten gebe, ist bereits jetzt klar, dass es ein unbürokratisches System geben wird, das auch umsetzbar ist, beispielsweise ohne eine zehnstufige Einordnung oder ähnliches.
- Zur Finanzierung: Ganz ohne eine Umlage auf die Bürger:innen wird es wohl nicht gehen.
Steimle:
- Bisher weiß niemand, wie hoch die Kosten ausfallen, daher macht es keinen Sinn, hier jetzt schon Summen anzuführen.
- Im Sinne des Verursacherprinzips ist es gängige Praxis, auch die Industrie ins Boot zu holen. Eine Belastung für die Bürger:innen ist nicht unvermeidbar.
- Rund um angekündigte Engpässe bei Metformin ist es natürlich möglich, Panik zu schüren, doch um die Versorgung zu sichern, ist es wichtig, die Industrie entsprechend einzubeziehen.
Dr. Kroth:
- Die EU-Kommission kennt die Kosten durchaus. Sie hat diese als vergleichsweise niedrig eingestuft und daher die Übernahme durch die Industrie angeregt.
- Die Hersteller müssen jetzt kalkulieren und können nicht auf eine mögliche künftige Revision im Jahr 2035 hoffen.
- Hoffnung macht die kürzlich erfolgte Zusage der Kommission, die Vorgaben nochmals zu überdenken.
Mestrovic:
- Preise für bestimmte Wirkstoffe können nicht einfach weiter unbegrenzt nach oben gesetzt werden. Die Pharmaindustrie ist in diesem Fall nicht vergleichbar mit anderen Industrien wie der Autobranche. Und auch das Vorgehen in anderen Bereichen, beispielsweise der Umstieg von Plastik- auf Papiertüten ist bei Arzneimitteln nicht 1:1 übertragbar.
- Auch die geltenden Rabattverträge müssen bei allen Überlegungen berücksichtigt werden.
- Was nützt es, wenn die Hersteller zwar die Kosten tragen, aber dadurch ihre Produktion einschränken?
14.32 Uhr:
Steimle:
- Je nach Wirkstoff muss auch der Aspekt der Verschreibungspflicht beachtet werden.
- Es gibt bei der Produktion bestimmte Umweltstandards, die eingehalten werden müssen und deren Erfüllung unter anderem auch durch Umweltboni und Co. ausgezeichnet wird.
- Wir müssen im Grunde erst einmal das annehmen, was die EU vorgibt. Und wenn die Vorgaben darauf abzielen, dass zwei Industrien die Kosten übernehmen, dann ist dies so.
Mestrovic:
- Was nützen mir Umweltboni in China, entscheidend ist, was wir bei der Produktion in Europa beachten müssen.
- Das Ziel ist nicht, die Bürger:innen zu belasten, sondern vielmehr, auch andere Industrien in die Pflicht zu nehmen, beispielsweise die Reifenindustrie.
Dr. Kroth:
- Wir können nicht einfach Wirkstoffe in der Produktion austauschen und Patient:innen einfach umstellen, einige Wirkstoffe mit toxischer Wirkung, beispielsweise Krebsmedikamente, brauchen genau diese Wirkung.
- Es geht nur noch um ein Abkassierinstrument, beispielsweise um die Kläranlagen umzubauen.
Osiek:
- Es gilt eine bestimmte Lenkungsfunktion. So gibt es für Hersteller beispielsweise dadurch von vornherein einen Anreiz, entsprechend der Vorgaben zu produzieren.
14.42 Uhr:
Steimle:
- Das Beispiel Schweden zeigt, dass genau dies funktioniert, denn dort machen sich die Hersteller Gedanken, welche Wirkstoffe ökotoxisch sind und welche nicht.
- Schon jetzt ist es möglich, sich beispielsweise über das Weißbuch, einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Wirkstoffe im Rahmen der Richtlinie besonders kritisch zu betrachten sind und Patient:innen entsprechend umzustellen und – falls möglich – alternative Therapien zu finden.
- Wir können uns jetzt schon auf Wirkstoffe konzentrieren, die einfacher zu handhaben sind.
14.46 Uhr: Fragen aus dem Publikum
Dr. Kroth:
- KARL ist wettbewerbsneutral, aber jede weitere Kostensteigerung ist ein weiterer Sargnagel für die Produktion in Europa. Denn dann fällt die Entscheidung, die Produktion nach China oder in andere Länder zu verlagern, immer leichter.
- Außerdem gibt es einen Konkurrenzdruck der EU-Mitgliedsstaaten untereinander um die Produktionsorte.
Steimle:
- Bei zahlreichen Wirkstoffen ist es auch im Einklang mit den geltenden Leitlinien möglich, die Therapie anzupassen.
- Auch Apotheken können hier einen Beitrag leisten, der wichtig und notwendig im Hinblick auf mehr Nachhaltigkeit ist.
- Wir können der Pharmaindustrie einiges zutrauen, um die Arzneimittelproduktion umweltfreundlicher zu gestalten.
- Im Hinblick auf die Kosten sollten zwar die Generikahersteller zwingend beteiligt werden, aber nicht allein. Auch forschende Akteure können beispielsweise einbezogen werden.
Osiek:
- Es braucht ein europäisches System, das festlegt, welche Stoffe berücksichtigt werden müssen, wer die Kosten trägt und weitere entscheidende Fragen.
Dr. Kroth:
- Genau dies ist aber nicht vorgesehen, sondern jedes Mitgliedsland kann für sich entscheiden. Damit wird ein Konkurrenzkampf zwischen den Mitgliedsstaaten geschaffen.
- Hinzukommt, dass die Pharmaindustrie anders als angenommen eben nicht der Hauptverursacher ist und genau dies auch berücksichtigt werden muss.
- Außerdem gibt es weitere Unklarheiten, vor allem die jeweilige Bebeitragung – welcher Stoff ist wie toxisch und muss wie bebeitragt werden. Fragen wie diese müssen schnellstmöglich geklärt werden.
Steimle:
- Bei zahlreichen Wirkstoffen ist es möglich, auf weniger toxische Alternativen umzustellen, ohne die Wirksamkeit infrage zu stellen. „Das ist doch eine tolle Aufgabe" – und zwar auch für die Apotheke.
15.00 Uhr:
Tröbitscher fasst Fragen/Anmerkungen aus dem Publikum zusammen: Um eine Verbraucherbeteiligung – Lebensstiländerung, Prävention und Co. – kommen wir nicht herum, um umweltfreundlicher zu werden.
Dr. Kroth:
- Das Beispiel Schweiz zeigt mit 8 Franken/Jahr für jede/n Bürger:in, dass es durchaus möglich ist, die Kosten zu verteilen – aber ohne eine zu starke finanzielle Belastung zu erzeugen.
Osiek:
- Entscheidend ist auch, dass die Richtlinien Wirksamkeit zeigen und bereits für Verbesserung sorgen konnten. Die Erweiterte Herstellerverantwortung ist politisch als Teil von KARL vorgesehen und ohne diese wäre die Richtlinie womöglich nicht durchgekommen. Um KARL nicht komplett infrage zu stellen, kann diese Verantwortung nicht außen vor gelassen werden.
Mestrovic:
- KARL ist unverzichtbar, denn wir alle möchten saubereres Wasser. Doch der Aufwand, der innerhalb des kurzen Zwei-Jahres-Zeitraum betrieben werden muss, um die Regelungen umzusetzen, sei kaum zu stemmen. Erst Recht, wenn dabei auch die Versorgungssicherheit im Blick behalten werden muss.
- Es gibt eine gute Intention, aber die Umsetzung ist einfach zu schlecht. Aktuell wollen wir das Eine, aber tun das Andere.
Dr. Kroth:
- Die erneute Prüfung durch die Kommission ist zwar positiv, doch währenddessen müsste auch die Umsetzung gestoppt werden, denn andernfalls sind Änderungen kurz vor dem Start kaum noch möglich.
Steimle:
- In puncto Finanzierung wäre auch der Aspekt des Umsatzes zu berücksichtigen, um die Kosten zu verteilen.
15.12 Uhr: Abschlussstatements
Mestrovic:
- Denkbar sind verschiedene Ideen, aber wichtig ist, dass wir handeln.
- Wir sprechen hier teilweise über Substanzen, bei denen bereits jetzt Wartezeiten von mehreren Monaten bestehen, daher brauchen wir Planungssicherheit und eine baldige Lösung. „Wir müssen ins Handeln kommen.“
- Gleichzeitig müssen aber auch Arzneimittel in der Apotheke verfügbar sein beziehungsweise bleiben.
Dr. Kroth:
- Wir haben ein Konzept, das aber schlecht durchdacht ist. „Wir brauchen eine Denkpause“, denn nur so kann ein vernünftiges, umsetzbares Konzept entstehen.
Steimle:
- „Wir brauchen Planungssicherheit und hier muss die Gesetzgebung zügig ran.“
- Bereits jetzt ist die Belastung für die Bürger:innen hierzulande hoch, da sind auch kleine Summen wie 10 Euro mitunter nur schwer zu stemmen.
- Es braucht starke Schultern, die die Verantwortung tragen, hier hat auch die Forschung eine wichtige Rolle.
Osiek:
- Wir brauchen eine zeitnahe und tragfähige Lösung, damit der wichtige Aspekt des Umweltschutzes weiter vorangetrieben wird.