Suchtmedizin

Cannabis als Substitutionsmittel? Deniz Cicek-Görkem, 17.07.2018 14:07 Uhr

Berlin - 

Das Potenzial der Cannabispflanze in der Suchtmedizin ist noch wenig erforscht. Bisher gibt es Hinweise darauf, dass Cannabidiol (CBD) die morphinabhängige Belohnungsreaktion im Gehirn und die Rückfallrate bei Morphinabhängigkeit reduzieren kann. Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München legen nahe, dass Patienten mithilfe von Cannabis das Verlangen nach Suchtmitteln wie Alkohol, Benzodiazepine oder Opioide reduzieren können.

Bisherige Untersuchungen zeigen, dass die Prävalenz des regelmäßigen Cannabiskonsums unter opioidsubstituierten Patienten 50-mal höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Es geht auch hervor, dass in dieser Patientengruppe etwa jeder Zweite regelmäßig Cannabis raucht. Allerdings fehlen grundlegende Daten über das Cannabiskonsumverhalten opioidabhängiger Patienten. Der Zusammenhang zwischen Cannabis- und Opioidkonsum ist Gegenstand der Forschung, die Datenlage ist diesbezüglich noch uneinheitlich.

LMU-Wissenschaftler wollten mit einer Pilotstudie neue Erkenntnisse gewinnen, indem sie das Cannabis-Suchtverhalten von 128 ambulant opioidsubstituierten Patienten analysierten. Dazu wurden die Studienteilnehmer mittels standardisierter, validierter Fragebögen zu cannabisspezifischen Erfahrungen befragt. Im Vordergrund standen unter anderem die Menge des konsumierten Cannabis, die Konsumhäufigkeit, Konsummotive, etwaige Entzugserscheinungen und Nebenwirkungen.

Den Patienten wurde zudem venöses Blut zur Bestimmung der Tetrahydrocannabinol (THC)-, Cannabidiol (CBD)-, Cannabinol (CBN)- und Nikotin-Serumspiegel entnommen. Die Forscher evaluierten den Einfluss des Cannabiskonsums auf benötigte Substitutionsdosen. Die Patienten waren durchschnittlich 45 Jahre alt, drei Viertel aller Teilnehmer waren männlich. Im Median haben sie mit 14 Jahren angefangen, Cannabis in einer täglichen Menge von 1 g zu konsumieren.

Häufigste Gründe für den anhaltenden Konsum waren bei 79 Prozent innere Unruhe sowie Stressreduktion bei 61,2 Prozent. 53,1 Prozent der befragten Teilnehmer führten die Verringerung des Suchtdrucks (Craving) als Grund an. Fast jeder Zweite berichtete, dass Cannabis eine positive Auswirkung auf die Stimmungslage hat. „Die Pilotstudie bestätigt unsere Hoffnung, dass die Pflanze in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen eine wirksame Alternative sein kann“, erklärt Studienleiter Professor Dr. Markus Backmund, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin.

Hinsichtlich der Beeinflussung des Opioidkonsums machten die Wissenschaftler unterschiedliche Beobachtungen: Einerseits würden die von vielen Patienten angegebene Verringerung des Cravings nach Opioiden und die niedrigen Opioid-Äquivalenzdosis (OÄD) bei hohen THC-Säure- und CBD-Plasmaspiegeln für einen verringernden Effekt von Cannabinoiden auf den Opioidbedarf sprechen. Andererseits widersprächen dem scheinbar die höheren OÄD bei berichtetem Cannabiskonsum und bei Cannabisabhängigkeit.

Eine Erklärung für die gegensätzlichen Ergebnisse könnten den Forschern zufolge die weitgehende Unabhängigkeit der angegebenen Konsummenge pro Tag von der tatsächlichen Cannabinoidmenge im Blut sein. Möglicherweise sei dieser Umstand großen Unterschieden in den Cannabinoidkonzentrationen des konsumierten Cannabis geschuldet. Zudem könnte eine unterschiedlich schnelle Metabolisierung der Cannabinoide der Grund sein. „Auch ist eine schlechtere Gesamtverfassung aufgrund mehrerer Komorbiditäten unserer Patienten möglich, so dass sie sowohl hohe Opioiddosen als auch die verschiedenen Cannabiswirkungen im Sinne der Selbstmedikation benötigen“, schreiben die Wissenschaftler.

Laut Backmund gibt es mit mit der Verschreibungsfähigkeit eines Cannabis-basierten Medikaments eine Option für die Therapie von Suchtkranken, da der Opiathunger reduziert wird und Cannabis im Vergleich zu anderen Substanzen eindeutig weniger gefährlich ist. Ein weiterer Vorteil sei, dass Medizinalhanf eine größere therapeutische Breite habe als beispielsweise Methadon. „Wenn wir einem Patienten eine zu hohe Dosis eines Opiats verabreichen, kann es sofort zu einem Atemstillstand kommen. Bei Cannabis haben wir nicht annähernd ein so hohes Risiko.“ Nach aktuellen Zahlen sterben allein in den USA rund 170 Menschen pro Tag an einer Opioid-Überdosierung. Eine solche Überdosis-Krise sei mit Cannabis gar nicht möglich.

Geplant seien Anschlussstudien, in denen den Teilnehmern Cannabis-basierte Medikamente mit unterschiedlichen Wirkstoffkonzentrationen verabreicht werden. Ziel sei es, die Wirkungsweise der Inhaltsstoffe im Körper zu untersuchen, um neue Therapieansätze zu entwickeln. Um genauere Informationen über die eingenommenen CBD- und THC-Mengen zu erhalten und eine Differenzierung der CBD- und THC-Wirkung zu ermöglichen, sind allerdings randomisierte klinische Studien mit Einnahme standardisierter Cannabisdosen notwendig.

Bislang werden Methadon, Levomethadon, Buprenorphin, Morphin, Codein, Dihydrocodein sowie Diamorphin in der Suchtmedizin eingesetzt. Möglicherweise könnte künftig Cannabis hinzukommen; die Experten sind optimistisch.