Präqualifizierung

Gefangen zwischen Kasse und Aufsicht Alexander Müller, 31.08.2016 10:19 Uhr

Berlin - 

Nach offiziellen Zahlen haben die Apotheken im vergangenen Jahr 637 Millionen Euro mit Hilfsmitteln zulasten der Krankenkassen umgesetzt. Das entspricht nicht einmal einem Zehntel der Gesamtausgaben der Kassen in diesem Bereich. Aufgrund der aufwändigen Präqualifizierung für einzelne Versorgungsbereiche könnten künftig noch mehr Apotheken aussteigen. Eine Apothekerin aus Brandenburg etwa hätte gerne Bandagen abgegeben – darf aber nicht.

Die Apotheke ist neu errichtet und frisch eröffnet – geräumige, moderne Offizin, eine top ausgestattete Rezeptur. Trotzdem erfüllt die Apotheke nicht alle Voraussetzungen der Kassen, um Patienten mit Bandagen versorgen zu dürfen. Denn gemäß den Eignungskriterien wäre dazu eine behindertengerechte Toilette notwendig.

Bei der Planung der Apotheke war nur ein nicht barrierefreies Bad für die Mitarbeiter vorgesehen. Die Vermieterin hätte die Kosten für eine behindertengerechte Ausstattung auch nicht übernommen. Ein nachträglicher Umbau ist aufgrund der Räumlichkeiten ebenfalls nicht möglich.

Die Apothekerin sieht allerdings auch keine Notwendigkeit für die Ausstattung. Direkt nebenan ist ein großes Therapiezentrum mit Physio-, Ergo- und Logopäden, das über ein barrierefreies WC verfügt. Die Apotheke hatte die Zusage, dass gehbehinderte Kunden dieses bei Bedarf benutzen dürfen. Doch das reichte bei der Betriebsbegehung nicht aus. Der Antrag wurde abgelehnt, die standeseigene Agentur für Präqualifizierung ließ nicht mit sich reden.

Im Vordruck für das Begehungsprotokoll sind die Anforderungen genau vermerkt: Bei einer behindertengerechte Toilette darf die Tür nicht in den Sanitärraum schlagen und muss im Notfall von außen zu entriegeln sein. Die Bewegungsfläche für Rollstuhlnutzer muss mindestens 120 cm breit und ebenso tief sein. Unter dem Waschtisch muss Beinfreiraum vorhanden sein. Die Sitzhöhe des Klosettbeckens – einschließlich Sitz – muss 48 cm betragen.

Ferner müssen auf jeder Seite der Toilette klappbare, 15 cm über die Vorderkante des Beckens hinausragende Haltegriffe zu montiert sein, die in der waagerechten und senkrechten Position selbsttätig arretieren. Sie müssen am äußersten vorderen Punkt für eine Druckbelastung von 100 kg geeignet sein. Ein Notruf mit Schalter, Knopf oder Zugschnur ist zu installieren. Diese Anforderungen gelten beim Bezug von neuen Räumlichkeiten.

Laut dem GKV-Spitzenverband darf die behindertengerechte Toilette in Ausnahmen auch außerhalb der Betriebsräume liegen. Allerdings muss „die Nutzungsmöglichkeit in unmittelbarer räumlicher Nähe gegeben“ sein. Das Nutzungsrecht muss zudem vertraglich geregelt sein.

„Unmittelbar“ ist definiert als „durch keinen oder kaum einen räumlichen oder zeitlichen Abstand getrennt“. Sinn dieser Regelung ist laut GKV-Spitzenverband, dass auch behinderte Menschen ohne Aufwand und Umstände die Kundentoilette nutzen können. Öffentliche Toiletten werden aus irgendwelchen Gründen nicht anerkannt.

Eine Frage ist der Inhaberin der Apotheke erst im Nachhinein gekommen: Hätte sie die Nutzung der Toilette überhaupt zulassen dürfen, selbst wenn eine barrierefreie Ausstattung gegeben wäre? Denn das kann Ärger mit den Aufsichtsbehörden geben.

So teilte das Regierungspräsidium Darmstadt laut einem Rundschreiben der Apothekerkammer Hessen mit, „dass Kundentoiletten, unabhängig davon, ob für Behinderte geeignet oder nicht, grundsätzlich nur im öffentlich zugänglichen Bereich der Apotheke und nicht im Bereich hinter dem HV-Tisch genehmigt werden“. Die Apothekerkammer Niedersachsen – selbst Aufsichtsbehörde – hatte in einem Fall ebenfalls mitgeteilt, Kunden sei es „nicht gestattet, in Reichweite von apotheken- und verschreibungspflichtigen Arzneimitteln durch das Geschäft zu gehen“.

Behindertengerechte Toiletten werden laut GKV-Spitzenverband „für die Versorgungsbereiche bei Neubetrieben gefordert, bei denen anzunehmen ist, dass von der jeweiligen Versorgung verstärkt gehbehinderte Menschen betroffen sind und die unmittelbare Nähe daher von großer Relevanz ist“. Dann fällt eine Betriebsbegehungen mit Inventarprüfung an.

Dies gilt auch bei Bezug von neuen oder anderen Räumen oder bei maßgeblichen Änderungen innerhalb der bestehenden Räume. „Ein Erstbezug in diesem Sinne liegt auch bei einem Inhaberwechsel (Betriebsübernahme) vor, und zwar auch dann, wenn es sich um eine Betriebsnachfolge innerhalb der Familie handelt“, stellt der Kassenverband klar.

Aufgrund dieser Vorgaben könnten künftig weitere Apotheken von der Versorgung bestimmter Hilfsmittelgruppen ausgeschlossen werden. Die Vorgaben der Präqualifizierung können zudem weiter angepasst und auf zusätzliche Versorgungsbereiche ausgedehnt werden. Ob den Patienten damit im Einzelfall geholfen ist, steht auf einem anderen Blatt.