Essverhalten

Orthorexie: Ungesunde gesunde Ernährung dpa, 17.08.2016 10:47 Uhr

Nicht gesund: Wenn vermeintlich gesundes Essen zur lebensbestimmenden Ideologie wird, sprechen Experten von orthorektischem Essverhalten. Foto: Udo Kroener / fotolia
Andernach - 

Besessen von gesundem Essen, genauer gesagt von der Idee, sich gesund zu ernähren: Dass Menschen mit diesem sogenannten orthorektischen Essverhalten in ihrem Wahn oft genau das Gegenteil erreichen, ist ihnen nicht bewusst. Orthorexia nervosa, so der Fachbegriff, ist zwar kein anerkanntes Krankheitsbild. Aber: „Orthorexie ist gleichzusetzen mit einer krankheitswertigen Störung, die nicht zu verwechseln ist mit gesunder Ernährung an sich. Vielmehr handelt es sich um ein zwanghaftes Beschäftigen mit vermeintlich gesundem Essen“, sagt Dr. Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Psychiater (BVDP).

Gesunde Ernährung hat heute einen hohen Stellenwert, auch strenge Ernährungsformen stoßen zunehmend auf Interesse. Der Allensbacher Marktanalyse zufolge bezeichnen sich 800.000 Menschen in Deutschland als Veganer. Dr. Martin Greetfeld, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie warnt daher: „Man muss vorsichtig sein, gesellschaftliche Trends nicht gleich zu pathologisieren, daher sprechen wir von orthorektischem Essverhalten und nicht von Orthorexie als Krankheit.“

In einem wichtigen Punkt gibt es Unterschiede: „Lustvolles Essen tritt komplett in den Hintergrund. Hier liegt der Unterschied zu einem durchschnittlichen Veganer, der trotz strenger Regeln noch lustvoll essen kann“, sagt Roth-Sackenheim. „Betroffene stellen teils sehr bizarre Regeln auf, was für sie als gesund gilt. Der Fantasie sind dabei im Grunde keine Grenzen gesetzt.“

Die Vorbereitung einer Mahlzeit könne dann bis zu mehrere Stunden dauern. Aber am Ende werde doch nichts davon gegessen, weil Betroffene Angst haben, bei der Zubereitung einen Fehler gemacht zu haben, beschreibt die Fachärztin. Orthorektisches Essverhalten bekommt damit einen zwanghaften Charakter.

Auch wenn Orthorexie seit etwas mehr als 15 Jahren in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wird, gibt es bisher kaum gesicherte Forschungsergebnisse. Fest steht: während bei Magersucht oder Bulimie die Menge, der verzehrten Lebensmittel im Mittelpunkt steht, ist bei orthorektischem Essverhalten die Qualität, also die Auswahl an bestimmten Nahrungsmitteln im Fokus.

Orthorexie kann Einstieg in eine Essstörung sein, sagt Professor Dr. Anette Kersting, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Leipzig. „Orthorektisches Essverhalten ist ein Risikofaktor für Anorexie oder Bulimie. Untersuchungen zeigen, dass entsprechendes Essverhalten häufig zu Beginn oder nach einer behandelten Essstörung auftritt.“

Betroffen sind vor allem junge Frauen. Gesicherte Studienergebnisse fehlen aber, ebenso für die Gründe. „Die Motive können sehr individuell sein: Angst hervorgerufen durch Lebensmittelskandale, der Wunsch nachhaltig zu leben oder vermeintliche Krankheitsvorbeugung“, beschreibt Greetfeld seine Erfahrungen mit Betroffenen in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Roth-Sackenheim macht die Erfahrung: „Häufig ist Orthorexie ein Nebensymptom einer Depression oder Angststörung. Das veränderte Essverhalten wird genutzt, um dem Gefühl der Sinnentleerung oder des Kontrollverlustes im eigenen Leben entgegenzuwirken.“

Behandlungsbedürftig ist Orthorexie, wenn es zu körperlichen oder auch sozialen Beeinträchtigungen durch das veränderte Essverhalten kommt oder die Betroffenen darunter leiden. Allerdings: „Wie auch bei Anorexie-Patienten gibt es bei Orthorexie wenig Einsicht, dass das eigene Essverhalten schädlich ist. Das liegt bei den Orthorexie-Patienten unter anderem daran, dass gesunde Ernährung grundsätzlich einen hohen Stellenwert hat“, sagt Kersting.

Oft bleibt orthorektisches Essverhalten daher lange unerkannt, sagt Roth-Sackenheim. „Viele Betroffene gehen nur zum Arzt, wenn sie Begleiterscheinungen ihrer Mangelernährung bekommen, beispielsweise Schlaflosigkeit, Hautprobleme oder generelle Erschöpfung.“ Kersting, die auch das Referat für Frauen und geschlechtsspezifische Fragen in der Psychiatrie bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) leitet, warnt zudem: „Orthorektisches Essverhalten kann nicht nur körperliche Folgen haben, sondern auch zu sozialer Isolation führen, insbesondere wenn Betroffene von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugt sind, kann dies zu Konflikten führen.“ Gemeinsame Restaurantbesuche mit Freunden werden unmöglich.

Die ideologische Komponente von Orthorexie erschwert eine erfolgreiche Behandlung. „Betroffene haben teils große Angst, dass die Therapie sie krank macht. Der Weg zu einem normalisierten Essverhalten ist dann besonders schwer“, sagt Greetfeld, der sich seit 2008 mit Essstörungen beschäftigt.

Im besten Fall kommt es also gar nicht erst soweit. Kersting appelliert daher an Familie und Freunde von gefährdeten Personen: „Der Übergang von gesunder Ernährung als Tugend zum krankhaften Verhalten ist fließend. Betroffene können das selbst nur schwer beurteilen. Hier ist auch das Umfeld gefragt, aufmerksam zu sein.“ Frühzeitig erkannt und behandelt, stehen die Chancen gut, dass aus einem restriktiven Essverhalten langfristige keine Essstörung wird.