Retaxationen

Wie Apotheker die Retax-Welle nicht verhinderten Nadine Tröbitscher, 26.06.2017 10:22 Uhr

Berlin - 

Mit ihren massenhaften Nullretaxationen sorgt die Barmer für Schlagzeilen. Verschiedene Apotheker hatten die Retaxwelle schon vor zwei Jahren kommen sehen. Beim Deutschen Apothekertag (DAT) in Düsseldorf stellte die Gruppe um Dr. Kerstin Kemmritz im September einen Antrag, der die Akutversorgung retaxsicher machen sollte. Da man keine schlafenden Hunde wecken wollte, wurde der Antrag vom Vorstand des Deutschen Apothekerverbands (DAV) begraben.

Kemmritz ist, wie ihr Berliner Kollege Dr. Kay Gehrke, eine von den berufspolitisch engagierten Kollegen, die noch viel am HV stehen und die Tücken der Praxis kennen. Die Pharmazeutin begnügt sich nicht damit zu hoffen, „dass immer alles gut geht“. Sie nimmt das Heft selbst in die Hand. Als sie vor etwa zwei Jahren eine Retaxationen für eine Akutversorgung kassiert hatte, formulierte sie mit elf Kollegen einen Antrag für den DAT, um die Versorgung in dringenden Fällen retaxsicher zu machen. Was dann geschah, kann heute niemand mehr verstehen.

Die Gruppe um Kemmritz forderte, „das Auswahlspektrum bei Geltendmachung pharmazeutischer Bedenken auf alle verfügbaren Fertigarzneimittel auszudehnen, wenn die Apothekerin oder der Apotheker im bisherigen Spektrum des verordneten oder eines des drei preisgünstigsten Präparate kein geeignetes Arzneimittel zur Versorgung des Patienten oder der Patientin findet“. Denn kann den Vorgaben des Rahmenvertrags nicht entsprochen werden, dürfen Apotheker die Verordnung eigentlich nicht beliefern, weil kein Ausweichen möglich ist. Das Rezept muss wieder zum Arzt, was nicht nur einen hohen Arbeitsaufwand, sondern „vor allem eine Verzögerung in der Versorgung der Versicherten darstellt“.

„Könnte in diesen Fällen die begründete Auswahl auf weitere Arzneimittel ausgedehnt werden, ohne dass die Verordnung geändert werden muss, ließe sich die Versorgung der Versicherten deutlich verbessern.“ Als Beispiele nannten die Apotheker Teilbarkeit, Darreichungsform und Handhabung, Lieferfähigkeit – und eben auch die Dringlichkeit, die aktuell von der Barmer in Frage gestellt wird.

Als der Antrag auf dem DAT vorgetragen wurde, machten die Kollegen große Augen. Bislang hatte es ja keine Probleme bei der Abrechnung gegeben. „Die Kollegen dachten, sie könnten bei einer Akutversorgung alles abgeben. Scheinbar wusste niemand von der geltenden Regelung, den Rabattpartner, eines der drei preisgünstigsten Präparate, das verordnete Medikament oder das billigste Importarzneimittel liefern zu müssen.“ Kemmritz war zu dem Zeitpunkt scheinbar die Einzige, die eine Retaxation kassiert hatte.

Theo Hasse, Verbandschef in Rheinland-Pfalz, gab zu Protokoll, dass bei pharmazeutischen Bedenken auf die gesamte Palette zugegriffen werden könne. Es bedürfe daher keiner Klärung. Dr. Rainer Bienfait, Vorsitzender des Berliner Apotheker-Vereins und Verhandlungsführer des DAV, erklärte, dass im Normalfall nicht retaxiert werde. Er verwies auf die damals laufenden Verhandlungen zum Retax-Deal. Einzig Magdalene Linz, Kammerpräsidentin in Niedersachsen, unterstützte den Antrag. Weil der jedoch umformuliert werden sollte, verwies ABDA-Hauptgeschäftsführer Dr. Sebastian Schmitz die Sache in den Ausschuss: „Das können wir so schnell nicht klären.“ Außerdem sehe er große Risiken für die künftige Anwendung der Sonder-PZN.

„Der Antrag wurde zwar nicht abgelehnt, aber vergraben – eine Beerdigung zweiter oder erster Klasse“, so Kemmritz heute. Dass man damals keine schlafenden Hunde wecken wollte, räche sich jetzt. „Die Barmer ist trotzdem wach geworden.“

Die Versorgung im dringenden Fall sei eine „individuelle Sache und gehört absolut in die Hände der Apotheker“, so Kemmritz. „Die Krankenkasse ist die letzte, die das entscheiden kann.“ Die Berliner Apothekerin wünscht sich weniger Bürokratie und weniger Paragraphenreiterei: „Bei den Krankenkassen steht der Patient mit seiner Gesundheit nicht im Mittelpunkt, sondern im Weg.“

Bei der Akutversorgung sollte der Preis aus ihrer Sicht keine Rolle spielen, sondern „die schnelle und pharmazeutisch korrekte Versorgung“. Nullretaxationen seien vertragsfern, allenfalls mit der Absetzung der Preisdifferenz wäre sie einverstanden, so Kemmritz. Der Traum der Apothekerin: „Bei allen Sonder-PZN sollte die Dreierregel bei einer stichhaltigen Begründung außer Kraft gesetzt werden.“ Der Apotheker sei „unweigerlich ermächtigt“, unter Einhaltung der Formalitäten die Akutversorgung sicherzustellen.

Ob der Antrag in diesem Jahr auf dem DAT erneut vorgetragen wird, hängt vom Verhalten der Krankenkassen ab. Diese werde man „im Auge behalten“ und deren Reaktion abwarten. Eventuell gebe es ja doch noch ein Einlenken seitens der Barmer. Wenn nicht, könnte ein Adhoc-Antrag im September vorgetragen werden. Angesichts der aktuellen Lage sollten sich aber zehn Delegierte finden, die sich des Themas annehmen.