Ist das noch verhältnismäßig?

Fehlende Unterschrift – 500.000 Euro Strafe Patrick Hollstein, 03.01.2023 15:42 Uhr

Wie hoch darf die Strafe für Formfehler sein? Foto: APOTHEKE ADHOC
Berlin - 

Landen Leistungserbringer vor den Sozialgerichten, haben sie gewöhnlich schlechte Karten. Egal ob Nullretax oder XXL-Regress – meistens bekommt die Krankenkasse bekommen Recht. Dies musste aktuell ein Arzt erfahren, der 500.000 Euro Strafe zahlen soll, weil er Rezepte nicht eigenhändig unterschrieben hat. Doch es gibt Hoffnung: In einem ähnlichen Fall hat parallel ein anderes Gericht entschieden, dass solche Beanstandungen zwar dem Grunde nach korrekt, aber dennoch unverhältnismäßig sind, und eine Hintertür für mehr „Einzelfallgerechtigkeit“ geöffnet.

Die AOK Hessen verlangt von einem Arzt aus dem Raum Marburg 475.000 Euro zurück. Denn der bereits seit 1991 praxizierende Urologe hatte laut der Kasse mindestens seit Anfang 2013 seine Rezepte nicht mehr selbst unterzeichnet, sondern dies einer Mitarbeiterin überlassen. Die ist zwar ebenfalls Ärztin, war aber nach zwei Jahren einer Weiterbildung in der Praxis um die Jahrtausendwende angeblich nicht mehr bei den Zulassungsgremien gemeldet. Auf der Website der Praxis wird sie wohl als Assistenzärztin aufgeführt.

Die Unterschriften auf den Verordnungen unterschieden sich laut AOK von einer Unterschriftprobe, die die Kasse der Prüfungsstelle zur Verfügung stellte. Der Mediziner sei daher seiner Verpflichtung, die Rezepte persönlich zu unterschreiben, nicht nachgekommen. Man gehe davon aus, dass die Verordnungen von einer dritten Person ausgestellt worden seien, die in der Praxis nicht vertragsärztlich hätte tätig sein dürfe. Laut Arzneimittelverschreibungsverordnung, Arzneimittel-Richtlinie, Bundesmantelvertrag seien Verordnungen von Arzneimitteln aber stets vom Vertragsarzt auszustellen und persönlich zu unterzeichnen. Daher sei ein Regress angezeigt.

Unterschrift unter Aufsicht

Der Praxisinhaber bestritt keineswegs, dass seine Kollegin die Rezepte in ihrer Position als Weiterbildungsassistentin für ihn „vorunterzeichnet“ habe. Dies habe aber allein der administrativen Vereinfachung gedient, da er selbst aufgrund eines neurologischen Leidens eingeschränkt sei. Dies sei aber stets auf seine Anweisung und unter seiner fortwährenden und permanenten Supervision geschehen, im überwiegenden Fall im Zusammenhang mit Verordnungen für Krebspatienten.

Er verteidigte sich auch damit, dass er sich in Sachen Richtgrößen und Abrechnung noch nie etwas zu schulden kommen lassen habe und dass der festgesetzte Regress vollkommen unverhältnismäßig und für ihn ruinös sei: Im Grunde hätte er dann nämlich sämtliche Kosten für die Versorgung der Versicherten mit den für diese notwendigen Arzneimitteln selbst zu tragen, was weit über die Kürzung seines eigenen Honorars hinausginge.

Das Sozialgericht Marburg ließ sich nicht darauf ein. Laut Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gelte das Gebot der persönlichen Leistungserbringung nicht nur für die Behandlung und Verordnung selbst, sondern auch für die Ausstellung und Unterzeichnung der Verordnung. „Nur die Einhaltung bestimmter wichtiger Formalien — wie zweifellos die ärztliche Unterschrift unter einer Verordnung — können garantieren, dass die Patienten Medikamente erhalten, die im Rahmen der ärztlich vorgesehenen Therapie verschrieben worden und unter ärztlicher Therapieverantwortung stehen.“

Abwägung der Interessen

Überraschenderweise kam das Sozialgericht Mainz in einem ganz ähnlichen Fall zu einem anderen Ergebnis. Hier ging es um einen Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, der ermächtigt war, an der vertragsärztlichen Versorgung von Krebspatientinnen teilzunehmen. Er hatte die Rezepte über Zytostatika ebenfalls nicht persönlich unterzeichnet und diese teilweise noch während des stationären Aufenthalts der Patientinnen ausgestellt. Daher sollte er rund 270.000 Euro zahlen.

Auch wenn der Arzt durchaus gute Gründe ins Feld führen konnte, warum bei der Infusionstherapie mehrere Ärzte gemeinsam in einem Expertengremium entschieden und die Medikamente aufgrund von Anforderungsscheinen in der Apotheke hergestellt und die Rezepte im Grunde nur nachgereicht wurden, sah das Gericht trotzdem dem Grunde nach einen Verstoß gegen die geltenden Vorschriften. Damit sei auch ein Schaden für die Kassen unzweifelhaft anzunehmen.

Und trotzdem hätte die Prüfungsstelle den Antrag der Kasse zurückweisen müssen. „Die Gemeinsame Prüfeinrichtungen haben bei ihren Entscheidungen die Gebote von Treu und Glauben zu berücksichtigen“, so das Gericht. Dies sei keine Abkehr von der BSG-Rechtssprechung, sondern eine in § 242 BGB verankerte Möglichkeit zur „Korrektur gesetzlicher (oder vertraglicher) Regelungen, um anderen der Rechtsordnung immanenten Wertungen – aber auch überrechtlichen sozialethischen Prinzipien – im Einzelfall Rechnung tragen zu können“. Im Grunde gehe es um die „Verwirklichung einer – denklogisch (inter)subjektiven – ‚Einzelfallgerechtigkeit‘“ unter Abwägung der widerstreitenden Interessen.

Zwar hätten die Kassen ein berechtigtes Interesse an der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zur Aufrechterhaltung des vertragsärztlichen Ordnungssystems und an einem verantwortungsvollen Umgang mit den finanziellen Mitteln ihrer Mitglieder. Aber: „Welches Gewicht diesem Interesse bei der vorzunehmenden Abwägung zukommt, richtet sich danach, wie schwerwiegend sich der Verstoß bei wertender Betrachtung der Umstände des Einzelfalls darstellt.“

Demgegenüber habe der Arzt ein Interesse daran, finanzielle Einbußen zu vermeiden. „Je eher der beantragte Regress geeignet ist, gravierende finanzielle Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung des Arztes zu haben, desto mehr Gewicht ist diesem Interesse beizumessen.“ Erzielte Einkünfte aus den strittigen Leistungen seien dabei kompensatorisch zu berücksichtigen. Und wurden wegen desselben Verstoßes weitere Prüfverfahren beantragt, seien die Regresssummen zu addieren, da die drohenden finanziellen Belastungen des betroffenen Arztes nur auf diese Weise sachgerecht beurteilt werden könnten.

Über das Ziel hinaus geschossen

„Je eher ein drohender Regress dazu geeignet ist, über das gesetzgeberische Ziel des Prüfverfahrens – namentlich die sanktionsbewährte Anhaltung der zugelassenen Leistungserbringer zu wirtschaftlichem Verhalten – hinauszuschießen und die Existenzgrundlage des Betroffenen zu gefährden, desto mehr drängt es sich auf, Billigkeitserwägungen gegenüber Gleichbehandlungsaspekten im Einzelfall vorrangige Bedeutung beizumessen.“

Im konkreten Fall überwiege das Interesse des Arztes, da die mit dem Regress einhergehenden finanziellen Belastungen immens seien und sich gravierend auf seine Lebensverhältnisse auswirken könnten. Den Interessen der Kasse komme hingegen ein marginales Gewicht zu, zumal aufgrund der geschilderten Abläufe und Dokumentationen ausgeschlossen werden könne, dass der Arzt weitere Leistungen unter Missachtung des Gebots persönlicher Leistungserbringung delegiert habe.

Schließlich bestünden keine Zweifel, dass die Kasse die Kosten für die verordneten Arzneimittel übernehmen müsse: Der Regress betreffe ausschließlich zugelassene Standardtherapeutika, die im Rahmen der jeweiligen Tumorerkrankung zu den leitliniengerechten Therapieregimen gehörten und deren Sachdienlichkeit weder von der Prüfungsstelle noch von der Kasse in Abrede gestellt wurden.