Bittermandel-Therapie

Apotheker darf wieder Amygdalin vertreiben APOTHEKE ADHOC, 20.10.2016 08:58 Uhr

Berlin - 

Ein Apotheker aus Hannover darf bis auf Weiteres wieder von ihm selbst hergestellte Kapseln und Tropfen vertreiben, die den Wirkstoff Amygdalin enthalten. Das zuvor vom Verwaltungsgericht Hannover (VG) ausgesprochene Vertriebsverbot hob jetzt das Oberverwaltungsgericht (OVG) auf und gab im Beschwerdeverfahren dem Eilantrag des Apothekers gegen eine sofort vollziehbare Untersagungsverfügung der Apothekerkammer Niedersachsen statt.

Die Aufhebung gilt bis zu einer Entscheidung über seine noch beim VG Hannover anhängige Klage gegen die Verbotsverfügung. Amygdalin kommt in der Natur unter anderem in bitteren Aprikosenkernen, bitteren Mandeln, Maniok und Leinsamen vor. Einige Vertreter der alternativen Medizin wenden sie zur Therapie oder Vorbeugung von Krebserkrankungen an. Ihr Nutzen und ihre Schädlichkeit sind jedoch umstritten.

Bereits der Vater des jetzt betroffenen Apothekers hatte Amygdalin-Präparate vertrieben und juristische Auseinandersetzungen deswegen geführt: Seit den 1960er Jahren wurden in der Apotheke amygdalinhaltige Arzneimittel zur oralen Anwendung herstellt und diese an Patienten abgegeben. Im Jahr 2003 untersagte die damals zuständige Bezirksregierung dem Vater des jetzigen Apothekeninhabers das Inverkehrbringen von Rezeptur-Arzneimitteln mit den Bestandteilen Amygdalin, Mandelonitril und Mandelonitril-Verbindungen.

Der nachfolgende Rechtsstreit, in dem der Apotheker zunächst vor dem VG Hannover unterlag, endete aber mit dem Urteil des Niedersächsischen OVG im Jahr 2007, welches das Verbot aufhob. Das Gericht sah keinen begründeten Verdacht der Bedenklichkeit gegen Amygdalin-Arzneimittel.

Seit diesem Urteil gibt es jedoch neue Erkenntnisse, auf die sich die Kammer Niedersachsen stützt. Im September 2014 veröffentlichte das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen Artikel, in dem es die Ansicht vertritt, dass amygdalinhaltige Arzneimittel als bedenklich einzustufen sind. Im Dezember 2014 riet die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) ebenfalls von der Anwendung von amygdalinhaltigen Fertigarzneimitteln und anderen Produkten ab.

Die AkdÄ schilderte den Fall eines vierjährigen, an Krebs erkrankten Jungen, der im Rahmen einer alternativmedizinischen Behandlung nach Einnahme eines oralen Amygdalin-Präparates mit Verdacht auf eine Cyanid-Intoxikation vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Cyanid-Spiegel lag bei 514 μg/l. Nach Gabe des Antidots Natriumthiosulfat besserte sich der Zustand des Jungen, und er konnte nach zweitägiger stationärer Behandlung entlassen werden.

Die Apothekerkammer Niedersachsen untersagte dem Apotheker in Hannover auf Grundlage der neuen Erkenntnisse das Inverkehrbringen von amygdalinhaltigen Arzneimitteln zur oralen Anwendung und ordnete die sofortige Vollziehung an. Begründung: Es bestehe der begründete Verdacht, dass die bezeichneten Arzneimittel schädliche Wirkungen hätten, die über ein vertretbares Maß hinausgingen. Es gebe zudem keinen wissenschaftlichen Beleg für deren Wirksamkeit.

Es gebe vielmehr neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Toxizität auch pharmazeutisch reiner amygdalinhaltiger Arzneimittel bestätigten und damit den Verdacht der Bedenklichkeit stützten. Zudem werde die erforderliche besondere Sorgfalt bei der Abgabe nicht beachtet. Ein Kunde habe berichtet, dass er nicht beraten worden sei, sondern die Sendung lediglich eine allgemeine Begleitinformation enthalten habe.

Das VG Hannover schloss sich der Sichtweise der Kammer Niedersachsen an. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Vertriebsverbotes überwiege das private Interesse des Apothekers. Das Gericht qualifizierte sein Urteil als „originäre Ermessensentscheidung“ mit Blick auf die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Die Kammer könne das Inverkehrbringen von Arzneimitteln oder Wirkstoffen untersagen, deren Rückruf anordnen und diese sicherstellen, wenn der begründete Verdacht bestehe, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen habe, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgingen, so das VG. In der Zwischenzeit hätten sich neue Erkenntnisse ergeben. Das Verbot der Kammer sei daher nicht zu beanstanden, urteilte das Verwaltungsgericht.

Das Oberverwaltungsgericht hob das sofortige Verbot trotzdem auf. Da die schriftlichen Gründe des OVG noch nicht vorliegen, ist die Argumentation der Richter nicht bekannt. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist unanfechtbar.