Bundestagswahl

Wo ist Jens Spahn? Tobias Lau, 27.08.2021 09:19 Uhr

Berlin - 

Noch vier Wochen sind es bis zur Bundestagswahl – und es ist eine Wahl von einer Bedeutung, wie es sie zuletzt 1998 gab: Eine Ära endet, eine neue beginnt, muss sogar beginnen, weil erstmals eine amtierende Kanzlerin nicht erneut antritt. Und als wäre das nicht schon historisch genug, ist es die erste bundesdeutsche Wahl inmitten einer globalen Pandemie. Eigentlich also die Zeit für große Inhalte – und nicht zuletzt die Gesundheitspolitik, die im zurückliegenden Jahr endlich die Aufmerksamkeit erhielt, die ihr gebührt. Doch es passiert: fast nichts. Der bisherige Wahlkampf ist ein Armutszeugnis für Regierung und Opposition gleichermaßen, kommentiert Tobias Lau.

Wo ist eigentlich Jens Spahn? Kein Gesundheitsminister vor ihm war derart präsent in den Medien, sei es freiwillig oder unfreiwillig. Ende vergangenen Jahres war er der Juniorpartner des damaligen Kandidaten auf den CDU-Vorsitz, Armin Laschet. Der hat den Vorsitz bekommen und sich dann in einer tagelangen Zitterpartie auch noch die Kanzlerkandidatur gesichert. Nun versucht er, inmitten der Pandemie das Erbe von Angela Merkel anzutreten. Mehr Einladungen, sich aktiv in den Wahlkampf einzubringen, kann man als Gesundheitsminister eigentlich kaum haben. Doch Spahn ist abgetaucht – und auch dafür gibt es wohl gute Gründe.

Denn beide hätten momentan wohl recht wenig voneinander. Laschet leistet sich einen Patzer nach dem anderen, zuletzt konnte er nicht einmal aus dem Stegreif die drei wichtigsten Punkte seines Wahlprogramms nennen. Und wenn er sich mal an echten inhaltlichen Statements versucht, vergreift er sich direkt im Ton – siehe seine Äußerung mit Blick auf das Drama in Afghanistan, dass sich „2015“ nicht wiederholen dürfe. Eigentlich bräuchte es dann ein paar Zugpferde, die seine Äußerungen einordnen und für den Kandidaten trommeln. Doch Spahn ist kein Zugpferd mehr, er ist ausgebrannt. Der Minister ist mit seinen Affären und seiner Performance selbst angreifbar geworden. Er hat es geschafft, vom zeitweise beliebtesten Minister zurück in die unteren Gefilde der Politiker-Rankings abzusteigen. Lange konnte Spahn sein Macher-Image aufrechterhalten, doch die Pandemie hat das meiste davon zunichte gemacht: Zu erratisch wirkte sein Management teilweise, hinzu kommen mehrere kleine Affären von fragwürdigen Immobiliendeals bis hin zum Chaos um die zentrale Maskenbeschaffung durch sein Haus. Dass dutzende Unternehmen gemeinsam das BMG verklagen, ist jedenfalls kein alltäglicher Vorgang.

Hinzu kommt: Dem Vernehmen nach gilt seine politische Zukunft schon als ziemlich sicher, Spahn soll nach der Wahl die Unionsfraktion führen. Anders als ein Ministeramt ist der Posten unabhängig vom Wahlausgang – und Laschet ist dermaßen auf dem absteigenden Ast, dass es auch für Spahn wenig erfolgversprechend ist, sich als sein Tandempartner zu präsentieren. Vermutlich will er nicht neben Laschet untergehen, sondern den Kopf erst wieder hoch strecken, wenn sich der Sturm gelegt hat. Allein dass das ein realistisches Szenario ist, verdeutlicht schon, welch besondere Wahl Ende September getroffen wird. Denn dass die SPD nochmal an die Union herankommt – laut jüngsten Umfragen sogar mit ihr gleichzieht – hätte vor nicht allzu langer Zeit wohl selbst in der SPD kaum jemand für möglich gehalten. Damit es so weit kam, musste SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz genau eine Sache machen: die Füße stillhalten. Und das verdeutlicht besser als alles andere das Problem mit Laschet und Spahn.

Denn obwohl die Bundestagswahl in vier Wochen die wichtigste Richtungsentscheidung der jüngeren deutschen Geschichte ist, fehlt es vor allem an einem: Richtungen, für die man sich entscheiden kann. Deutschland steht sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig vor epochalen Herausforderungen: Pandemie, Digitalisierung, demographischer Wandel samt absehbarem Kollaps des heutigen Rentensystems und nicht zuletzt das Menschheitsthema Klimawandel. Und bei allen von ihnen spielt die Gesundheitspolitik eine, wenn nicht wie in der Covid-Pandemie sogar die entscheidende Rolle. Noch dazu kommt die Interdependenz der Themen: Corona hat überdeutlich gemacht, wie die deutsche Verwaltung und das deutsche Gesundheitssystem unter seinem Mangel an digitalen Prozessen leidet. Und der Gesundheitsminister, dessen Herzensthema bis zu Pandemie die Digitalisierung war? Der wirkt unauffindbar.

Stattdessen beschränkt sich der Wahlkampf bisher auf Nebensächlichkeiten – Laschet lacht, Baerbocks Ghostwriter schreibt ab. Vor allem der Unionswahlkampf wirkte dabei zuletzt geradezu panisch bis verzweifelt. Laschet versucht nun damit zu punkten, dass er das Schreckgespenst einer rot-grün-gelben Koalition beschwört. Das ist nicht antiquiert – die roten Socken lassen grüßen – sondern schlicht kein Schreckgespenst. Grüne und Union zerlegen sich also gegenseitig, Scholz sitzt in der Mitte und tut am besten daran, gar nichts zu sagen. Derjenige Kandidat, der selbst mit Cumex und Wirecard selbst noch seine eigenen Skandale im Nacken hat. Inhalte machen da nur angreifbar. Doch genau das ist das ist nicht nur das Tragische für das Land im Allgemeinen, sondern auch für das Gesundheitswesen im Besonderen: Die nächste Bundesregierung muss Kassensturz machen und gigantische Haushaltslöcher stopfen. Über eine halbe Billion Euro hat die Corona-Pandemie gekostet, auch wenn hier verständlicherweise keine Partei die lauteste sein will – es wird gespart werden müssen.

Und dabei wird es das Gesundheitssystem treffen, das steht außer Frage. Es wird ein Spagat, denn einerseits hat die Pandemie gezeigt, wo man unbedingt nachsteuern muss, andererseits muss eben massiv Geld gespart werden. Jetzt wäre es die Zeit der Inhalte: Welche Partei will das Gesundheitswesen wie und wo reformieren? Wo gibt es Einsparpotentiale, die gerecht sind? An welchen Stellen muss trotz allem investiert werden? Das Wahlvolk hätte es eigentlich verdient, dass über solche Inhalte gestritten wird.