Polypharmazie

Wieso stellen nicht alle Heime Apotheker ein? Deniz Cicek-Görkem, 07.05.2018 09:15 Uhr

Berlin - 

Polypharmazie erhöht das Risiko auf Wechselwirkungen und Nebenwirkungen, vor allem aus Pflegeheimen ist dieses Problem bekannt. Eine Lösung wäre die Anstellung von klinischen Pharmazeuten, die in Zusammenarbeit mit Ärzten die Arzneimitteltherapie der Patienten kontrollieren und optimieren. Doch die pharmazeutische Betreuung möchte auch bezahlt werden – hierzulande Fehlalarm. Anders sieht es in zwei Kantonen der Schweiz aus: Freiburg und Wallis haben für jedes Pflegeheim einen „Vertrauensapotheker“ eingestellt, der für die Medikation mitverantwortlich ist und auch dafür honoriert wird. Das begrüßt auch Apothekerin Dr. Brigitte Morand, die am Kantonspital Aarau (KSA) in der Spitalpharmazie tätig ist. Aus ihrem Berufsalltag weiß sie, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten für die Lebensqualität der Patienten ist.

Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen und damit die Einnahme von vielen verschiedenen Medikamenten. Doch dies ist mit erheblichen Risiken verbunden. Jährlich kommt es in Deutschland zu mehreren hunderttausend Krankenhauseinweisungen wegen vermeidbarer Medikationsfehler, die wiederum Zusatzkosten für das Gesundheitssystem bedeuten. Anders könnte es aussehen, wenn klinische Pharmazeuten eingesetzt werden, die frühzeitig solche Fehler in der medikamentösen Therapie erkennen. Klinikapotheker kennen Medikamente, Dosierung und Nebenwirkungen und prüfen die Verträglichkeit, Wirtschaftlichkeit sowie den Zweck neuer und alter Therapien, ohne den Arzt in seiner Therapiefreiheit einzuschränken.

Eine Expertin für klinische Pharmazie ist Morand, die seit ein paar Jahren mit zwei Aargauer Pflegeheimen, einem regionalen Akutspital und zwei Reha-Kliniken zusammenarbeitet. Die Apothekerin besucht regelmäßig die Heime und kontrolliert die Arzneimittel der oft multimorbiden Bewohner. „Wir fokussieren uns auf die medikamentöse Therapie und machen Vorschläge, um den größtmöglichen Nutzen für die Patienten zu erhalten.“ Und dieser sei nur mit einer Zusammenarbeit mit den Ärzten zu erreichen: „Wir können nur voneinander profitieren, wenn wir uns austauschen. Nur so gewinnt der Patient“, sagt die Pharmazeutin. Zu ihren weiteren Aufgaben gehöre der Arzneimittelinformations- und der Bereitschaftsdienst sowie die Fortbildung von Ärzten und dem Pflegepersonal.

Der Stoffwechsel von alten Menschen unterscheidet sich von denen anderer Personen. Im Alter ist der Arzneimittelmetabolismus verändert. Die Leistungsfähigkeit der Organe nimmt ab, was in der Regel eine Dosisanpassung zur Folge hat. „Die Nierentätigkeit nimmt im Alter ab, die Zusammensetzung von Fett- und Muskelmasse ist verschieden. Und Medikamente zur Behandlung von Krankheiten des zentralen Nervensystems (ZNS) wirken intensiver“, ergänzt die Spitalapothekerin.

Viele Medikamente sind nur für Erwachsene einer bestimmten Altersgruppe getestet und haben bei älteren Menschen eine abweichende Wirkung. Manche Arzneistoffe eignen sich gar nicht oder sehr eingeschränkt für den Einsatz bei Senioren. Einen Überblick verschafft die Priscus-Liste, die 83 Medikamente aus 18 Klassen umfasst, zu denen unter anderem Analgetika, Antiarrhythmika, Antidepressiva, Neuroleptika, Benzodiazepine und Antidementiva zählen sowie die Beer’s-, Forta- und die Stopp-Start-Liste. Der geriatrische Patient ist laut Morand trotzdem immer eine Herausforderung: „Eine Guideline für die Therapie alter Menschen zu etablieren, erscheint schwierig“, erklärt sie. Denn hier spielten individuelle Besonderheiten eine besondere Rolle. Beispielsweise gäbe es 70-Jährige, die sehr eingeschränkte Körperfunktionen hätten, während auf der anderen Seite Personen im Alter von 90 noch „topfit“ wären.

Wie sieht die Zusammenarbeit in der Klinik aus? Morand und ihre Kollegen studieren vor der Visite die Patientenakten und nehmen Laborwerte, bestehende Krankheiten, aktuelle Symptome und die Medikation genau unter die Lupe. Aber auch das Pflegepersonal würde Probleme schildern, die pharmazeutisch gelöst werden müssten. „Wir prüfen zum Beispiel ob die Dosierung angepasst ist, ob es überhaupt eine Indikation für die eingesetzten Arzneimittel gibt.“ Zudem werde die Applikation kritisch begutachtet und Interaktionen ausfindig gemacht. „Ärzte schreiben neue Symptome oftmals einer neuen Krankheit zu, während durch uns die Beschwerden in Bezug auf eine Medikamentennebenwirkung geprüft werden“, berichtet Morand. Aber nicht nur pharmazeutische, sondern auch ökonomische Gesichtspunkte sind im Alltag der Apothekerin von Belang. „Wir diskutieren miteinander“, sagt sie. Ziel sei immer eine sichere, wirksame und ökonomische medikamentöse Versorgung der Patienten.

Klinische Apotheker, die in Heimen oder Krankenhäusern die Medikation analysieren und optimieren, führen zu einer besseren Lebensqualität der Patienten und zu einer höheren Arzneimitteltherapiesicherheit. „Wir reduzieren nicht nur die Anzahl der Medikamente, sondern damit verbunden auch die Häufigkeit von unerwünschten Arzneimittelereignissen (UAE), Krankenhauseinweisungen und somit die Folgekosten“, erklärt Morand. Das Gesundheitswesen profitiere von der pharmazeutischen Expertise, daher sollte der Einsatz von klinischen Apothekern in diesen Bereichen gefördert werden. Als angestellte Apothekerin beim KSA befürwortet sie den Einsatz von Pharmazeuten in Pflegeheimen, was im Kanton Aargau bereits in kleinem Umfang Realität sei. Die tarifarische Vergütung der klinischen Pharmazie durch die Krankenkassen wäre ein erster Ansatz, dass vermehrt Pflegeheime und Spitäler klinische Pharmazeuten einsetzen um die Gesundheitskosten zu senken.

„Es stellt sich die Frage, wieso nicht alle Heime eine klinische Pharmazeutin anstellen“, schreibt eine Autorin der schweizerischen Tageszeitung „Grenchner Tagblatt“. Ein Hindernis sei das Geld: Die Dienste der Apotheker könnten beispielsweise im Tarif-System des Kantons Aargau nicht abgerechnet werden. Die Kosten müssten vom Heim getragen werden. Zudem erfolgte nicht überall die Abrechnung der Medikamente pauschal. Viele Heime entrichteten Medikamente patientenspezifisch. „Sie werden dann auch entsprechend von den Krankenkassen vergütet. In diesem Fall haben Heime einen geringen Anreiz, die Medikamentenkosten zu senken.“

Nach Ansicht des schweizerischen Kassenverbands Santésuisse lohnt sich das System mit den Pharmazeuten in den Pflegeheimen finanziell in jedem Fall. Die Medikamentenkosten konnten seit der Einführung in Wallis nachweislich gesenkt werden. „Unter Kontrolle des Apothekers fallen überflüssige Medikamente weg. Zudem wechselt er teure Originalpräparate mit gleichwertigen Generika aus“, schreibt die Zeitung. Die Vertrauensapotheker erhalten pro Tag und Bewohner umgerechnet rund 84 Cent. Diese Pauschale erhalte das Heim von der Krankenkasse vergütet. Bei beispielsweise 50 Patienten wären das im Monat etwa 1300 Euro.

Dass der Einsatz von Apothekern die Arzneimitteltherapiesicherheit bei Heimbewohnern erhöht, zeigte auch eine aktuelle Untersuchung der AOK Rheinland/Hamburg und des Apothekerverbands Nordrhein. Die Studie „Geriatrischen Medikationsanalyse bei Bewohnern von Pflegeheimen durch Pflegeheim-versorgende Apotheken“ wurde wissenschaftlich durch das Pharmazeutische Institut der Universität Bonn begleitet. Im Rahmen der zweijährigen Studie führten zwölf Apotheken für 94 Patienten aus 16 Pflegeheimen eine Medikationsanalyse durch. Im Durchschnitt nahmen die Patienten 13 Wirkstoffe pro Tag ein. Die Apotheker dokumentierten rund 150 arzneimittelbezogene Probleme und konnten etwa jedes dritte Problem durch beispielsweise Dosisanpassungen, Änderungen von Einnahmezeitpunkten oder Arzneiformen lösen.