ePA als potenzieller „Game Changer“

IKK: „Nicht nur Finanzierer sein, sondern Mitgestalter“ 20.11.2025 12:20 Uhr

Berlin - 

Auf der diesjährigen Plattform Gesundheit der Innungskrankenkassen (IKK) stand die elektronische Patientenakte (ePA) im Mittelpunkt. Experten diskutierten deren Potenzial, die notwendigen Rahmenbedingungen und die Herausforderungen im Roll-out.

„Wenn die ePA konsequent auf Versorgungsverbesserung ausgerichtet ist, wird sie zum umfassenden Game Changer im Gesundheitswesen werden. Zum Herzstück eines digitalen Gesundheitssystems, auch mit Blick auf die Planungen zur Einführung eines Primärversorgungssystems“, erklärte Hans Peter Wollseifer, Vorsitzender des Verwaltungsrates der IKK classic und stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes, einleitend. Die ePA könne Kommunikationsprozesse beschleunigen und Doppeluntersuchungen vermeiden, indem alle Befunde und Medikationspläne an einem zentralen Ort lägen. Dies eliminiere das größte Sicherheitsrisiko: die Informationslücke.

Neue Möglichkeiten eröffne sie auch der KI-gestützte Diagnostik, die von vollständigen digitalen Daten profitiere – in Echtzeit, mit Therapiekontrolle und individueller Prävention. Auch trage die ePA zum Bürokratieabbau bei. Es bestehe ein großes Potenzial, wenn Datenschutz und Datennutzung in Balance gebracht würden, betonte er. Das volle Potenzial entfalte sich aber nicht von selber: Ärzt:innen und Apotheker:innen würden weiterhin über fehlende Schnittstellen klagen, so Wollseifer.

„Wir wollen nicht nur Finanzierer der Digitalisierung sein, sondern Mitgestalter einer modernen, datenbasierten Versorgung“, erklärt Wollseifer. Die ePA könne den Kassen die Möglichkeit eröffnen, Versorgungslücken früher zu erkennen, Präventionsangebote gezielt zu steuern und Versicherte aktiver in die Gestaltung der eigenen Gesundheitswege einzubeziehen. „Wir verstehen unsere Rolle so, weniger Datenverwaltung, mehr Versorgungssteuerung. Das ist der Wandel, den wir brauchen und den wir aktiv gestalten wollen.“ Bisher sei aber nicht vorgesehen, dass die Kassen einen Einblick in die ePA bekämen, kritisierte er.

Blick ins Nachbarland

Dr. Stefan Sabutsch, Technischer Geschäftsführer der Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) in Österreich, gab Einblicke in die Erfahrungen des Nachbarlandes. Dort sei die ELGA bereits seit zehn Jahren in Betrieb. Sie sei ein System von Profis für Profis: Der Patient könne zwar hineinschauen und Daten sperren, habe aber keine beitragende, aktive Rolle. Die ELGA diene der ungerichteten Kommunikation.

Bei der ELGA gebe es eine Opt-Out-Lösung. Aktuell seien 97 Prozent der Bürger dabei. Der Bürger selbst könne sich über ein Web-Portal einwählen, sofern er über eine ID-Austria verfüge. Eingebunden seien 82 Prozent der Kassenärzte und 97 Prozent der Apotheken.

Derzeit umfasse die ELGA folgende Dokumente und Funktionen: E-Befunde, E-Medikation, E-Bilddaten (über die auch medizinische Bilddaten wie Röntgenbilder zur Verfügung gestellt werden könnten), sowie den E-Impfpass. Am meisten genutzt werde die Medikation; die Medikationsliste, die stark von Ärzten und Apothekern verwendet werde. Hier sollen in den nächsten Jahren alle Gesundheitsanbieter angebunden und ein neuer Medikationsplan implementiert werden.

Beim Impfpass seien aktuell nur bestimmte Impfungen verpflichtend eingetragen. Weiterentwicklungspotenzial bestehe hier im Impfkalender beziehungsweise bei Impferinnerungen. Eine Bürger-App mit Benachrichtigungen wäre dann der nächste logische Schritt.

Der E-Befund komme bisher nur aus den Kliniken. Befunde von niedergelassenen Ärzten, Laboren und Radiologien fehlten noch in der Anbindung. Auch die Bilddaten seien im niedergelassenen Bereich nicht ausreichend eingebunden. Lobend hob Sabutsch unter andrem die Opt-Out-Lösung hervor. Das einzelne Abschalten von Dokumenten oder Funktionen werde hingegen wenig verwendet. Er mahnte, dass es saubere Datenqualität und tiefgreifende Anpassungen in den Systemen brauche und das Zeit in Anspruch nehme.

Für die Zukunft seien mehrere Pläne vorgesehen:

  • E-Diagnose: Zentrale Erfassung von Diagnosen aus dem niedergelassenen Bereich
  • E-Medikationsplan: Erfassung der tatsächlichen und vollständigen Medikation
  • E-Behandlungsplan: Eine Übersicht der Behandlungen für chronisch Kranke
  • E-Patientenverfügung: Einführung einer digitalen Patientenverfügung
  • Patient Summary: Eine EU-konforme, automatische und aktuelle Zusammenfassung der Patientendaten
  • Plattformgerichtete Kommunikation: Einführung einer plattformbasierten Kommunikationsfunktion

Stabilität, Sicherheit und Vertrauen

Man sei zwar noch nicht ganz im Regelbetrieb, aber auf dem Weg dorthin, erklärte Lena Dimde, Product Ownerin ePA bei der Gematik. Sie räumte zudem ein, dass man von Stabilität noch nicht sprechen könne. Es sei extrem ärgerlich, wenn die Telematikinfrastruktur (TI) ausfalle, aber man arbeite als Gematik daran. Die technischen Grundlagen müssten funktionieren – „da gibt es auch keine Alternative“.

Man befinde sich gerade in der Aufbauphase und könne langsam in die Phase der Konsolidierung übergehen, in der erste Daten fließen, ergänzte Erkan Ertan, Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Er sprach von weltweit besten Datenschutzbedingungen für das „Mammutprojekt“. Ertan warnte, Vertrauen müsse man sich über viele Jahre erarbeiten, dieses könne aber in einem Augenblick auch wieder verloren gehen. Daher müsse man sich die Schwachstellen, die der Chaos Computer Club (CCC) aufgezeigt habe, genau anschauen.

Nutzen in der Praxis und Nutzerfreundlichkeit

Es sei generell gut, dass man loslegen könne, findet Annette Rennert, Fachärztin für Allgemeinmedizin. Sie hob die Medikationsliste als die niederschwelligste Anwendung in der Praxis hervor. Sie müsse als Ärztin nichts in ihrem Alltag ändern und hätte durch die Medikationsliste einen klaren Vorteil für die Behandlung der Patienten – wenigstens über die seit Anfang des Jahres verordneten Medikamenten. Das sei eine Sache, die im Versorgungsalltag helfe. Rennert fügte hinzu, dass auch diejenigen, die die ePA nicht aktiv nutzten, davon profitierten, beispielsweise Pflegeheimbewohner, bei denen Ärzte nun alle Medikamente einsehen könnten.

Ertan wies darauf hin, dass die Patienten und Patientinnen mitgedacht werden müssten. Er betonte, dass der aktuelle Stand der ePA noch nicht nutzerfreundlich genug sei. Die Möglichkeit zur eigenständigen Selbstbefähigung des Patienten sei eine der größten Herausforderungen. Er sei der festen Überzeugung, dass man Wege finden könne, Patientendaten zu schützen und gleichzeitig digitale Angebote zu schaffen.

Einbindung aller Gesundheitsakteure

Robert Leitl, Verwaltungsratsvorsitzender der BIG direkt gesund und Mitglied im Beirat der Gematik, betonte, dass alle Gesundheitsakteure mit eingebunden sein sollten. Er appellierte: „Bitte etwas breiter denken und nicht einschränken.“ Er wiederholte den Wunsch der Kassen nach einem Mehr an Informationen, um maßgeschneiderte Präventionsangebote zu machen. Er sei überzeugt, dass dies die Gesellschaft entlasten würde. Die Kassen wollten nicht in Konkurrenz zu Ärzten treten, sondern ergänzend Angebote streuen, um perspektivisch Krankheiten wenigstens zu verzögern.

Es sei eine gesamtheitliche Aufgabe, in der Bevölkerung für Aufklärung zu sorgen, erklärte Leitl. Dies sei nicht nur Aufgabe der Krankenkassen; auch die Leistungserbringer, insbesondere die Hausärzte, seien gefragt.

Eine App für alles

Leitl formulierte seine Vision: „Die Vision für mich wäre, dass wir auf der Plattform noch andere Module andocken können.“ Ein einziges großes Portal, über das verschiedene Anwendungen genutzt werden könnten. Dimde stimmte zwar zu, gab aber zu bedenken, dass man schauen müsse, in welcher Geschwindigkeit man was umsetzen könne. Man habe Limitationen und müsse daher priorisieren. Deutschland könne man nicht mit kleineren Ländern wie Estland vergleichen. Sie hoffe auf weniger enge Fristen.

Deutschland sei ein großer Industriestaat und ein „großer Tanker“, der nicht einfach nach links und rechts drehen könne, so Ertan. Es lohne sich, diesen „Tanker“ immer wieder zu schubsen. Deutschland könne hier eine Vorbildfunktion haben, wenn es ordentlich gemacht werde, um in einigen Jahren etwas erschaffen zu haben, auf das man stolz sein könne. Er warnte davor, dass, wenn der Staat es nicht schaffe, die ePA auf die Beine zu stellen, irgendwann die Wirtschaft kommen werde, es schneller und oft auch besser machen werde, aber ohne dass die Auswirkungen absehbar seien.

Er betonte, dass die Bürger dazu ermächtigt werden müssten, selbstständig mit ihren Daten zu arbeiten und zu entscheiden. Es sei zentral, dass sie selbst bestimmen könnten, welche Daten wie genutzt werden sollen, welche Daten für bestimmte Leistungserbringer gesperrt werden sollen oder welche Daten für die Forschung genutzt werden können. „Also diese Fähigkeiten zu bekommen, das schafft Vertrauen, das schafft am Ende, dass die Menschen sagen: ‚Hey, das ist was für mich!‘“