Kommentar

Die Formretax ist zurück Nadine Tröbitscher, 22.06.2017 10:21 Uhr

Berlin - 

Wie der Rezept-Joker Sonder-PZN zum Retax-Joker der Krankenkassen werden kann, zeigt gerade die Barmer im großen Stil. Es hagelt bundesweit Vollabsetzungen – fernab von der Realität und dem Sinn der Akutversorgung. Die Kasse bezieht sich auf den Rahmenvertrag, an den sie sich selbst nicht hält, und riskiert eine neue Versorgungslücke, kommentiert Nadine Tröbitscher.

Dass Arzneimittel akut benötigt werden, kann jeden zu jeder Tageszeit treffen: das Baby, das dringend ein Antibiotikum einnehmen soll, den Familienvater, der ohne sein Salbutamol-Spray keine Luft bekommt, oder den Rentner, der unverzüglich mit dem Blutdrucksenker versorgt werden muss.

Nur die Verantwortlichen bei der Barmer waren offensichtlich noch nie in einer solchen Notsituation. Jedenfalls kürzt die Kasse reihenweise Rezepte von Apothekern, die Barmer-Versicherte mit dringend benötigten Medikamenten versorgen wollten und die weder das Rabattarzneimittel noch eine der drei günstigsten Alternativen an Lager hatten oder beschaffen konnte.

Damit schließt die Barmer ihre eigenen Versicherten von der Versorgung aus – und zwar ausgerechnet dann, wenn deren Not am größten ist. Zurück zum Arzt, lautet die Devise. Neues Rezept besorgen. Das erschwert den Apotheken- und Praxisalltag, aber das kümmert diejenigen nicht, die sozialgerichtlich davon freigesprochen wurden, sich mit den Niederungen des Versorgungsalltags herumzuschlagen – Stichwort Massenprüfungsgeschäft.

Nur wer als Patienten den Betrag erst einmal vorfinanzieren kann, darf auf Hilfe hoffen. Die Quittung bekommt er hinterher, wenn ihn seine Kasse auch noch pauschal auf einem Teil der Kosten sitzen lässt. Das ist schon im normalen Geschäftsleben sittenwidrig, für eine Körperschaft öffentlichen Rechts, die sich die Gesundheit ihrer Versicherten auf die Fahne geschrieben hat, ist es eine Bankrotterklärung. Die Kasse muss aufpassen, dass die Sache nicht zum öffentlich wirksamen Bumerang wird.

Für die Apotheker gehörte die Barmer bislang zu den eher umgänglicheren Kassen. Das hat sich geändert – Stichwort Arge Parezu, Stichwort Sonder-PZN. Mittlerweile fehlt den Verantwortlichen jeder Realitätsbezug. Akutfälle, liebe Barmer, treten in den meisten Fällen dann auf, wenn kein Arzt mehr zu sprechen ist, der eine neue Verordnung mit Aut-idem-Kreuz ausstellen könnte!

Dass die Kasse auch noch auf Vollabsetzung pocht, zeigt, wie krude das Verständnis von den Zusammenhängen des Retax-Deals aus dem vergangenen Jahr ist. Nullretaxationen sollten sparsam eingesetzt werden, nur bei gravierenden Verstößen und nicht mehr bei Formfehlern. Wer selbst bei dringenden Fällen die Axt rausholt, der zeigt, dass er nichts verstanden hat. Und dass er sich um die Versorgung seiner eigenen Versicherten einen Dreck schert.

Akutfälle, das zeichnet sich bereits ab, werden nur der Anfang sein. Auch den Pharmazeutischen Bedenken könnte es demnächst an den Kragen gehen. Und selbst die Nichtlieferbarkeit eines Rabattarzneimittels darf genau genommen nur mit dem Billigtrio umgangen werden. In Zeiten langer Engpasslisten lässt sich so die Versorgung nicht aufrecht erhalten. „Jeder hat sein Rezept, gesund zu bleiben“, warb die Barmer Anfang des Jahres. „Und wenn das mal nicht hilft, helfen wir.“ Formfehler ausgenommen.

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