„In der Verantwortung, jetzt nicht zu kneifen“

Nordrhein: Die ersten Apotheker haben geimpft APOTHEKE ADHOC, 25.09.2020 10:27 Uhr

In den Startlöchern: Im Kammerbezirk Nordrhein haben die ersten Apotheker die Fortbildungen für Grippeschutzimpfungen in Apotheken abgeschlossen. Foto: Tero Vesalainen/shutterstock.com
Berlin - 

Die Grippesaison steht vor der Tür und zumindest im Kammerbezirk Nordrhein stehen schon 100 Apotheken in den Startlöchern: Im Rahmen des Modellprojekts des Apothekerverbands Nordrhein (AVNR) und der AOK Rheinland/Hamburg sollen sie die ersten deutschen Pharmazeuten sein, die gegen die Grippe impfen. Die ersten Apotheker sind bereits mit den Schulungen durch und haben das Praxisseminar mit einer echten Grippeschutzimpfung abgeschlossen – an ihren Kollegen.

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde es knapp werden: Zum 1. März trat das Masernschutzgesetz in Kraft und ebnete den Weg für Grippeimpfungen in Apotheken. Die Euphorie bleib jedoch vorerst aus – die Covid-19-Pandemie überschattete alle anderen Themen – nicht nur, aber besonders in den Apotheken. AVNR und AOK Rheinland/Hamburg schafften es anders als die restlichen Kammerbezirke dennoch, pünktlich ein Projekt auf die Beine zu stellen. Drei Jahre soll es laufen und nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Standards begleitet und ausgewertet werden. Von den rund 2000 Apotheken im Kammerbezirk sind vorerst 100 beteiligt, die sich vorab in einem formlosen Verfahren beworben hatten.

Die beiden dafür notwendigen Vorbereitungskurse haben die ersten Apotheker nun absolviert: erst ein Onlineseminar vor knapp drei Wochen, dann ein Praxisseminar in Düsseldorf. Der zehnstündige Kurs musste zwar mit einer Prüfung abgeschlossen werden, ohne die man keine Einladung zum Praxisseminar bekam, war aber nach Darstellung eines Teilnehmers durchaus zu bewältigen. „Im Seminar ging es sehr viel um Pharmakologie auf Impfungen bezogen: Was ein Virus ist und wie es aufgebaut ist, was für Impfstoffe es gibt, wie die hergestellt werden und so weiter“, erinnert sich der Apotheker, der aus Angst vor der Reaktion der Ärzte in seiner Gegend vorerst nicht namentlich genannt werden will. „Das waren alles Sachen, die wir schon im Pharmaziestudium gelernt haben, nichts Neues. Es sollte eher sichergestellt werden, dass wir alle auf dem aktuellsten Stand sind.“ Für ihn war die Themensetzung zwar logisch und nachvollziehbar – trotzdem hatte sie eine gewisse Komik. „Wir vertreiben die Impfstoffe seit jeher zu Tausenden. Selbstverständlich haben wir uns vorher schon mit dem Thema ausgekannt“, sagt er.

Hinter den beiden Schulungen stehen die Bundesapothekerkammer (BAK), die das Curriculum erarbeitet hat, und die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR), die die Fortbildungen organisiert hat – und zwar sehr erfolgreich, wie Geschäftsführer Dr. Stefan Derix betont. „Wir haben schon viel Erfahrung mit Webinaren und konnten das deshalb sehr gut umsetzen. Der zweite Teil war aber auch für uns neu und mit einem hohen materiellen Aufwand verbunden. Aber auch das haben wir logistisch sehr gut hinbekommen.“ Nicht leicht sei es gewesen, Ärzte zu finden, die bereit sind, Apotheker im Impfen zu schulen – die Vorbehalte sind bekanntlich sehr groß. Fündig wurde die Kammer bei Dr. Thomas Menn, einem erfahrenen Mediziner aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. „Er war dem Projekt gegenüber positiv eingestellt und leicht dafür zu gewinnen.“

Mehr Neuland als das Webinar bot schon das erste Praxisseminar, das am Montag in Düsseldorf stattfand. „Wir waren im Vorfeld nur über Ort und Zeitrahmen aufgeklärt, das Curriculum kannten wir gar nicht“, erinnert sich der Apotheker. In Düsseldorf angekommen erwartete Menn die gut 20 Teilnehmer des ersten von insgesamt sechs Praxisseminaren. „Die Apotheker, die da waren, waren allesamt Apotheker, wie man sie sich wünscht: jung, engagiert, gut informiert.“ Insgesamt sollen gut 200 Apotheker die Schulung durchlaufen. „Aber wir hören auch schon, dass es noch weiteren Schulungsbedarf gibt, und sind gerade dabei, das abzuklären“, erklärt Derix. „Natürlich führen wir auch weitere Schulungen durch, falls es Bedarf gibt.“

Auch in Düsseldorf waren die Teilnehmer vom inhaltlichen Niveau nicht überfordert, neben Fragen zum Patientenrecht ging es beispielsweise Erste-Hilfe-Maßnahmen im seltenen Falle eines anaphylaktischen Schocks bei der Impfung – auch kaum neu für Apotheker, deren Betriebe schließlich immer einen Ersthelfer haben müssen und Notfallmaterialien ohnehin stets vorrätig haben. Ans Eingemachte ging es dann aber, als das Impfen selbst vermittelt und eingeübt wurde. „Das wurde wie in einem Erste-Hilfe-Kurs mit einem Dummy geprobt“, erzählt der Apotheker. An einem Puppenarm übten die Teilnehmer erst ohne, dann mit Wasser, wie die Spritze richtig gesetzt wird, und erhielten dabei praktische Tipps vom erfahrenen Mediziner zu Körperhaltung und Vorgehen: beispielsweise den Patienten am besten vorher nicht zu berühren, um ihm eventuelle Ängste zu nehmen. „Er hat von den Apothekern erstaunlich wenig vorausgesetzt, hat zwischendurch sogar gefragt, ob wir uns ein wenig mit Anatomie auskennen“, erinnert sich der Apotheker, meint das aber keineswegs negativ. „Er hat uns gut angeleitet, das einfach zu machen.“ Und auch eventuelle Nervosität angesichts der anstehenden echten Impfungen habe er zu zerstreuen gewusst. „Es hat schon sehr geholfen, als Dr. Menn erklärte, dass auch er sich noch konzentriert, wenn er eine echte Spritze setzt.“

Denn das war auch im Praxisseminar der nächste Schritt: die Impfung am echten Menschen. Die führten die Seminarteilnehmer gegenseitig an sich durch. Rein praktisch war das kein Problem, sagt der Apotheker. „Der Umgang mit der Spritze war für alle routiniert. Aber heilberuflich in die Unversehrtheit des Patienten einzugreifen, war schon etwas aufregend. Das ist schließlich etwas, was Apotheker, anders als Ärzte, sonst nie tun.“ Umgekehrt gab es keinen Grund zur Aufregung. „Für mich fühlte es sich genauso an wie beim Arzt, als meine Kollegin mich geimpft hat“, sagt er. „Die Kanülen sind so dünn, dass es ist, als ob man von einer Stecknadel berührt wird.“ Dass er tatsächlich als erster Teilnehmer im ersten Praxisseminar auch der erste Apotheker überhaupt war, der offiziell eine Grippeimpfung verabreicht hat, sei ihm im Moment selbst gar nicht bewusst gewesen – erst als der Arzt in beglückwünschte und die Kollegen applaudierten.

Bis es mit den Grippeimpfungen im Kammerbezirk Nordrhein losgeht, müssen Verband, Kammer und Krankenkasse allerdings noch einige Modalitäten klären, beispielsweise wie die Abrechnung läuft und welche Formulare dafür verwendet werden, außerdem müssen Beratungs- und Anamnesebögen versandt werden. „Die Dokumentation sollen wir am besten auf Papier machen, hat uns der Arzt geraten. So könne man das gut und sicher bis zu zehn Jahren aufbewahren.“ Hinzu kommen die Gegebenheiten vor Ort: Die Apotheke muss einen angeschlossenen Beratungsraum vorweisen können, der vom Verkaufsraum betreten werden kann und sowohl eine Garderobe als auch eine Liege hat. Abgerechnet werden dann Einzelpackungen wie bei Privatpatienten. „Wie wir die abrechnen, wissen wir selbst noch nicht genau“, sagt der Apotheker.

Dass ihm die Patienten jetzt die Tür einrennen, erwarte er dennoch nicht, allein schon, weil vorerst nur Versicherte der AOK Nordrhein/Hamburg geimpft werden können und bestimmte Indikationen wie Schwangere ausgenommen sind. „Alle sind sich bewusst, dass es jetzt nicht den großen Run geben wird, aber alle sehen sich auch in der Verantwortung, jetzt nicht zu kneifen. Ich denke, dass das eher im November und Dezember an Fahrt aufnimmt.“ Seine große Hoffnung ist, dass sich bei der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts zumindest unter den teilnehmenden Gruppen eine signifikante Steigerung der Impfquote einstellt – und dieser Beleg dann den Weg ebnet für bundesweite Grippeschutzimpfungen in Apotheken. Denn andere europäische Länder wie Dänemark, Großbritannien oder die Schweiz hätten damit bereits hervorragende Erfahrungen gemacht. „Wenn wir nur 10 oder 20 Prozent Steigerung schaffen, wäre das eine kleine Sensation. Dass das Potential da ist, können wir an unseren Nachbarländern sehen.“

Bisher liegt die Impfquote in der Gruppe der über 65-Jährigen gerade einmal bei 35 Prozent – politisch gewollt sind eigentlich 75. Flächendeckende Impfungen in Apotheken könnten da einen wichtigen Beitrag leisten. „Ich sehe schon, dass die Apotheker nicht das Allheilmittel sind, aber es scheint schon eine gewisse Hürde zu bestehen für viele Menschen, in die Praxis zu gehen und sich zwischen kranke Leute zu setzen. Das ist eine Hemmschwelle. Aber an der Apotheke laufen sie regelmäßig vorbei, dass sie das einfacher einrichten können.“

Dass sich ein nachweisbarer Nutzen von Impfungen in Apotheken einstellt, sei aber insbesondere auch für das Zusammenspiel der Heilberufler untereinander relevant. „Der Weg ist weit und das können die Ärzte allein nicht schaffen. Das haben sie wohl auch gemerkt und es hingenommen.“ Zumindest in der Vorbereitungsphase habe er bisher gute Erfahrungen gemacht. „Es war bisher ein sehr kollegialer Umgang auf Augenhöhe. Uns war schon bewusst, dass es heikel ist, das im Einvernehmen mit den Ärzten zu machen und nicht den Eindruck zu erwecken, wir wöllten denen das Wasser abgraben.“ Dass sie diesen Eindruck haben, daran ließen einige Wortmeldung aus der Ärzteschaft in der Vergangenheit keine Zweifel – von einem „gesundheitspolitisch unausgereiftem Schnellschuss mit fatalen Folgen für die Gesundheitsversorgung in NRW“, sprach beispielsweise Vorsitzende des Hausärzteverbands Nordrhein, Dr. Oliver Funken.

Dr. André Bergmann, Vorsitzender des Virchowbundes NRW, der die niedergelassenen Ärzte vertritt, machte das auch am Honorar fest: Es sei ein „Schlag ins Gesicht der niedergelassenen Ärzte“, dass eine Kassenarztpraxis pro Grippeschutzimpfung 7,71 Euro erhält, die Apotheken hingegen 12,61 Euro. Der Apotheker aus dem Praxisseminar sieht diese Rechnung als zu einfach: „Wenn das in einen Praxisablauf eingebettet ist, der Patient beispielsweise ohnehin da ist, dann hat der Arzt etwas davon.“

Apotheken könnten das nicht so einfach in die Alltagsabläufe einbetten, erst recht nicht während eines Modellprojektes, und müssen entsprechend mehr Zeit investieren. „Wir brauchen ungefähr eine halbe Stunde pro Impfung, inklusive des Personalaufwands arbeiten wir da nicht kostendeckend.“ Darum gehe es aber auch gar nicht ausschließlich. „Wir sind daran interessiert, die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern – aber im Einvernehmen mit den Ärzten.“