Seenotrettung

Apotheker aus Buxtehude versorgt Sea Watch

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Berlin -

Angesichts des globalen Gesundheitsnotstands der Corona-Pandemie ist eine andere Krise aber fast komplett aus der öffentlichen Debatte verschwunden: Nach wie vor ertrinken Menschen im Mittelmeer, die vor Gewalt und Armut nach Europa fliehen wollen. Erst am Donnerstag starben wieder 90 von ihnen vor der libyschen Küste. Und auch wenn Kapitänin Carola Rackete kaum noch in den Medien ist: Die Seenotretter von Sea Watch begeben sich nach wie vor selbst in Gefahr, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten und Schiffbrüchige zu versorgen. Die Arzneimittel dafür erhalten sie von Apotheker Alexander Stüwe aus Buxtehude.

Wer von einem der Sea-Watch-Schiffe aus dem Meer gezogen wird, hat oft Unvorstellbares hinter sich. Nicht zuletzt deshalb engagiert sich auch Ärzte ohne Grenzen auf den Rettungsschiffen. „Man kann sich das vorstellen wie eine schwimmende Hausarztpraxis. Selbst kleinere Eingriffe wie die Behandlung von Brüchen sind an Bord möglich“, erklärt Stüwe. Doch auch die Mediziner können meist nicht viel bewirken, wenn sie nicht die notwendigen Medikamente haben – und die kommen aus Stüwes Brücken-Apotheke in Buxtehude. Seit 2015 engagiert sich der Inhaber für Geflüchtete. Ihm seien die Bilder damals nahegegangen, sagt er. Als die Balkanroute geschlossen wurde und Menschen vermehrt über das vom Bürgerkrieg zerrüttete Libyen mit kaum bis überhaupt nicht hochseetauglichen Booten nach Europa zu kommen versuchten, wandte sich der erfahrene Skipper an Sea Watch. Doch er wurde nicht auf See gebraucht, sein pharmazeutisches Fachwissen war wichtiger.

Also setzte er sich mit den Ärzten in Verbindung, die ehrenamtlich auf den Rettungsschiffen arbeiten, und ließ sich erklären, was besonders gebraucht wird: Analgetika, Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen, Elektrolytlösungen gegen Dehydrierung. „Vor allem Dehydrierung ist ein großes Problem. Die bringt auch Begleiterscheinungen Augenreizungen und Kreislaufzusammenbrüche mit sich. Viele werden bewusstlos auf das Schiff gezogen“, erklärt er. Aufgrund der meist katastrophalen hygienischen Bedingungen auf der Flucht hätten auch viele mit Parasiten wie Läusen und Krätzemilben zu kämpfen. Viele Geflüchtete hätten außerdem teils schwerste körperliche Verletzungen und Folterspuren. „Da werden manchmal Menschen mit offenen Brüchen aus den Booten geholt. Es ist wirklich erschütternd, was die Ärzte dort teilweise sehen müssen.“

Aber auch sonst gut behandelbare Erkrankungen stellen auf der Flucht ein besonderes großes Risiko dar. „Ansonsten ist es ein Spiegel der Gesellschaft. Viele leiden auch unter normalen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck und haben zum Zeitpunkt ihrer Rettung teils schon seit langem keine Medikamente mehr erhalten.“ Besonders erschütternd sei es, dass wie oft Hochschwangere oder Mütter mit Kleinkindern aus dem Meer gezogen werden. Auch hier sei eine besondere Behandlung notwendig.

So wie die gesamte Arbeit von Sea Watch sind auch die Arzneimittelbestände an Bord komplett spendenfinanziert – und werden allesamt von Stüwe organisiert. Er hat die Erstausstattung der Schiffe Sea Watch 1 bis 4 übernommen und zeigt sich dabei betriebswirtschaftlich kreativ. „Die Rx-Arzneimittel werden aus Spenden finanziert, aber bei der Abgabe muss ich mich natürlich strikt an die Arzneimittelpreisverordnung halten. Wir haben das alles rechtssicher geregelt, schließlich wollen wir keine Angriffsfläche bieten“, sagt er. „Deshalb sponsere ich die rezeptfreien Arzneimittel zu 100 Prozent selbst. Ich habe das mit meinem Steuerberater besprochen und packe da meinen gesamten jährlichen Spendenfreibetrag rein. Rechnet man dann rezeptfreie und verschreibungspflichtige Arzneimittel zusammen, kommt man im Schnitt beim Spendenpreis heraus.“

Außerdem versucht er, bei OTC-Arzneimitteln etwas an den Konditionen zu drehen – es geht schließlich um humanitäre Hilfe. „Ich klappere dann die Hersteller ab und versuche denen zu erklären, wofür die Arzneimittel sind. Das klappt auch oft. Aristo hat mir zum Beispiel die Elektrolytlösung für Dehydrierungsfälle mit einem sehr guten Rabatt bereitgestellt. Das sind Preise, die man sonst bei OTC-Produkten nicht erhält.“ Viel Zeit, um solche Deals zu machen hat er indes nicht. „Innerhalb von drei bis vier Wochen muss ich alles auf die Beine gestellt haben, weil es meist sehr kurzfristig losgeht. Bei der Sea Watch 4 zum Beispiel war erst auf den letzten Drücker klar, dass das was wird. Und dann musste alles ganz schnell gehen.“ Sea Watch hatte das ehemalige Forschungsschiff des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung im Januar mit Unterstützung der Evangelischen Kirche und dem Bündnis United4Rescue in Kiel ersteigert.

Sind die Schiffe vor ihrem ersten Auslaufen in deutschen Häfen – was bisher zweimal der Fall war – übernimmt Stüwe auch die Auslieferung selbst. „Ich habe einen Kombi und der ist dann mit umgeklappten Rücksitzen und Dachbox komplett voll“, erzählt. „Das sind im Schnitt so um die 2000 Packungen Arzneimittel, da ist man mit 10.000 bis 15.000 Euro dabei. Deshalb sind wir wirklich auf die Spenden angewiesen.“ Sind die Schiffe nicht nahe genug, um selbst vorbeizufahren, organisiert er über einen Bekannten die Belieferung. Der fährt dann mit einem Lastwagen quer durch Europa und füllt nicht nur die Arzneimittelvorräte wieder auf, sondern versorgt die Schiffe auch mit Ersatzteilen und Verbrauchswaren. Denn auch der Unterhalt der Schiffe selbst geht ins Geld. Stüwe sammelt deshalb kräftig weiter, für die Vorweihnachtszeit plant er die nächste große Spendenaktion in seiner Apotheke und hofft, dass seine Kunden auch inmitten der zweiten Covid-19-Welle noch einen Groschen für die Seenotrettung übrighaben. „In der Pandemie guckt natürlich jeder erst einmal vor die eigenen Füße“, sagt er. „Man muss aber auch sehen, bei wie vielen Menschen es jeden Tag ganz akut ums nackte Überleben geht.“

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