EU-Verordnung für In-vitro-Diagnostika

Wegen Schnelltests: Hersteller fordern Gnadenfrist

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Berlin -

Die EU-Verordnung für In-vitro-Diagnostika (IVDR) stelle eine große Herausforderung für die Branche dar, warnt das Unternehmen Nal von Minden. Alarm schlagen laut dem Unternehmen aus Moers, das durch die frühe Herstellung von Schnelltests im vergangenen Jahr an Bekanntheit gewann, auch Benannte Stellen und der TÜV. Die wenigen zuständigen Stellen könnten die Arbeit kaum bewältigen. Die Folge könnten Lieferausfälle sein.

Ursprünglich sollte die EU-Verordnung für Medizinprodukte bereits im vergangenen Jahr in Kraft treten. Aufgrund der Pandemie wurde die Anwendung um ein Jahr verschoben. Seit Ende Mai ist es vorbei mit der Übergangsfrist – auf die Hersteller kommen neue Pflichten zu. Diese neuen Regularien führen in der Branche zu Unmut. Auch Nal von Minden hält die neuen Vorgaben für riskant: Einige Unternehmen würden als Konsequenz ihr Portfolio verkleinern. Doch die Marktrücknahme dürfte nicht das Ergebnis einer EU-Verordnung sein, mahnt Geschäftsführer Roland Meißner.

Die neuen EU-Richtlinie soll Medizinprodukte sicherer machen. Skandale wie minderwertige Brustimplantate galten als Auslöser für die Debatte. Zur Produktgruppe der Medizinprodukte gehören auch In-vitro-Diagnostika. Nicht nur die aktuell bekannten und überall eingesetzten Antigenschnelltests auf Sars-CoV-2 gehören hierzu, sondern auch Testkassetten, Reagenzien, Kalibriermaterialien, Abstrichmaterialen und Probenbehältnisse.

Nicht gegen die Änderungen, aber gegen den Zeitplan

Meißner betont, dass Nal von Minden nicht grundsätzlich gegen die neue Richtlinie sei, der anvisierte Zeitplan sei schlichtweg nicht tragbar. Insbesondere mit Blick auf die Pandemie könnten die Fristen nicht eingehalten werden. „Bis Mai 2022 müssen alle Produkte aus dem Bereich In-vitro-Diagnostik neu zugelassen werden. Das sind Tausende von Produkten, die bei der Diagnose von Diabetes, Herzinfarkt, Krebs und vielen anderen Erkrankungen wichtig sind.“ Die Richtlinie gilt nicht nur für deutsche Hersteller, sondern für alle, die ihre Produkte in der EU vertreiben wollen. Auch Dr. Gerd Hagendorff, Leiter des Qualitätsmanagements, kritisiert den Zeitplan: „Der ursprüngliche Zeitplan der EU ist von vornherein sehr ambitioniert gewesen.“

„Wir halten im Interesse aller Bürger eine Verschiebung um ein Jahr für realistisch“, sagt Hagendorff. „Im Idealfall tritt die IVDR erst 2023 in Kraft und nicht schon im Mai 2022.“ Zumindest für die Sparte der In-vitro-Diagnostika würde damit ein zusätzlicher Puffer von einem Jahr entstehen. Und hierbei ginge es nicht nur um die nachgefragten Corona-Tests: „Wir stellen über 100 Tests her, die zum Beispiel in der Notfallmedizin in Arztpraxen und Krankenhäusern eingesetzt werden, darunter Herzinfarktmarker und Tumordiagnostik. Stehen Tests nicht mehr im ausreichenden Maße zur Verfügung, könnten Krankheiten im schlimmsten Fall erst verspätet diagnostiziert und behandelt werden.“

Zeitlich einfach nicht umsetzbar

Auch die Benannten Stellen selbst schlagen Alarm, da die Arbeitslast im vorgegebenen Rahmen nicht erfüllt werden könnte. „Leider sind momentan europaweit für alle Hersteller, die in Europa In-vitro-Diagnostika vertreiben wollen, lediglich drei Benannte Stellen am Start“, erklärt Hagendorff. Für die rund 100 Produkte von Nal von Minden, die nach IVDR einer Anmeldung bedürfen, wären über 100 Wochen notwendig, denn pro Produkt veranschlagt die Benannte Stelle jeweils mindestens eine Woche. Hagendorff ist sich sicher: „Dies ist bis Mai 2022 kaum zu bewerkstelligen.“

Neue Klassifizierungsregeln und strengere Konformitätsbewertungsverfahren könnten zu Marktrücknahmen führen. Innerhalb der Branche würde sich dieser Trend bereits abzeichnen. Die Produkte, die den meisten Umsatz bringen, werden wahrscheinlich neu zugelassen werden. „Es handelt sich dabei vor allem um Diagnostika für sehr häufige Krankheiten. Die Gefahr besteht, dass Produkte für die Diagnose seltener Erkrankungen erst verspätet oder sogar gar nicht mehr zugelassen werden, weil es sich wirtschaftlich für das Unternehmen nicht mehr lohnt. Man darf nicht vergessen, dass die jetzt notwendige Neuzulassung auch finanziell ein enormer Kraftakt ist.“

Meißner sieht ohne Anpassung der Übergangsfrist Versorgungsengpässe: „Laut IVDR dürfen die Hersteller ab Mai 2022 die [nicht rechtzeitig zugelassenen] Produkte nicht mehr produzieren. Es dürfen nur Produkte, die bereits produziert sind und irgendwo gelagert werden, noch bis zum Verfallsdatum weiterverkauft werden. Das Ende einer Produktlinie, die nicht nach IVDR zugelassen ist, ist somit absehbar. Es wird Produktengpässe geben, einige Produkte werden komplett vom Markt verschwinden.“

Je kleiner das Unternehmen, desto mehr muss abgewogen werden, ob und was man erneut zulässt, gibt Meißner zu bedenken. „Für große Konzerne wird es hingegen wohl kein Problem sein. Eine Verlängerung der IVDR ist daher besonders für die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland und Europa wichtig.“ Das Problem mit der Zeit bleibe dennoch – die Anträge schneller durchzuwinken sei keine Option. Die Bearbeitung eines Antrages koste eben Zeit. Diese Zeit sei kaum da, so Meißner. Zudem habe es im vergangenen Jahr einen anderen Fokus gegeben.

Corona hatte einen anderen Fokus gesetzt

Die Entwicklung der Corona-Schnelltests musste zügig verlaufen. Gleichzeitig glich die Entwicklung viele Monate einem Poker-Spiel, da die Unternehmen nie wussten, ob und wie die In-vitro-Diagnostika in die Pandemiebekämpfung miteinbezogen werden sollten. Mit jeder Ausweitung der nationalen Teststrategie wuchs der Bedarf an Tests. „Wir haben sämtliche Kapazitäten gebündelt, um bei der Eindämmung der Corona-Pandemie zu helfen. Wir stellen jeden Monat Millionen von Schnelltests her. Da blieb wenig Zeit, sich um die EU- Verordnung zu kümmern,“ gibt Hagendorff zu bedenken.

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