Nachtdienstgedanken

Notfall Rezeptur: „Ich will dabei sein!“ Sarah Sonntag, 19.11.2017 07:57 Uhr

Berlin - 

„Ich brauche diese Creme sofort!“ Diesen Satz hört man im Notdienst nicht so häufig – zum Glück, denn meist erledigen die PTA die Herstellung. Wenn jedoch nachts um drei eine Rezeptur dringend benötigt wird und die Kundin bei der Herstellung dabei sein will, kommt sogar Sarah Sonntag ins Schwitzen.

Ich bin gerade eingeschlafen, als die Notdienstglocke klingelt. Ich springe schnell in den Kittel und gehe zur Klappe. Da streckt mir die Kundin auch schon das Rezept ins Gesicht. „Es ist dringend, ich brauche diese Creme sofort“, ruft die Frau aufgeregt. Ich wische mir den Schlaf aus den Augen und will nicht glauben, was ich sehe. Das grüne Rezept wurde vor fünf Wochen ausgestellt. Es ist eine Nasensalbe. Ich versuche die Frau zu beruhigen und sie auf morgen zu vertrösten. Erfolglos, schließlich ist es dringend und außerdem möchte sie die Herstellung beaufsichtigen, schiebt sie hinterher.

Mir fehlen die Worte, der Atem stockt. Die Kundin berichtet vom Zyto-Skandal und dem Apotheker vor Gericht. Sie könne jetzt niemandem mehr trauen und will darum sehen, ob ich auch wirklich jeden Wirkstoff korrekt abwiege und in der Creme verarbeite. Eine Sorge, die ich verstehen kann. Ein toxischer Pilz hat die ganze Mahlzeit vergiftet. Wir Apotheker werden alle über einen Kamm geschoren, wir stehen alle am Pranger und sind dem Vertrauensverlust ausgesetzt. Ich kann meinen Berufsstand in diesem Fall ins rechte Licht rücken.

Mit dem Rezept in der Hand gehe ich in die Rezeptur und schaue, ob ich alle Bestandteile der Nasensalbe an Lager habe. Dabei wecke ich Max und stottere. „Ich brauche gleich deine Hilfe, ich muss eine Rezeptur anfertigen. Kannst du schonmal alles vorbereiten, ich komme gleich mit der Kundin rein.“ Wie? Max ist verwundert. Die Kundin schaut zu? Ja, antworte ich, das ist halt jetzt mal so.

Jetzt stehen wir zu dritt in der Rezeptur. Max, Frau Schmitz und ich. Ich desinfiziere die Arbeitsfläche und alle Geräte. Gebe Frau Schmitz Kittel, Mundschutz, Handschuhe und setze sie vermummt auf einen Stuhl. Dann geht es auch schon los. Max erklärt die Herstellung und wir führen gemeinsam die Plausibilitätsprüfung durch und erstellen das Herstellungsprotokoll. Die Einwaagen lassen wir im Vieraugenprinzip von der Kundin absegnen. Währenddessen klärt uns Frau Schmitz über die aktuelle Lage im Prozess gegen den Apotheker aus Bottrop auf. Wie fassungslos und gelähmt sie als Kundin ist und wie schlimm das alles für uns Apotheker sein muss.

Fassungslos mache sie auch die Tatsache, dass der Prozess nicht verlegt werde und weiter vor der Wirtschaftskammer verhandelt werde. Der Abrechnungsbetrug stehe über allem, auch über Menschenleben. Ethik und Moral sei dahin und die Patienten unwichtig. Man wolle gar nicht glauben, was dem Apotheker vorgeworfen werde, aber am Ende bleibe die Angst. Zur Fassungslosigkeit komme die Wut – über die Skrupellosigkeit und die Argumente der Verteidiger. Bezahlen werden die Kunden und die Apotheker, die jeden Tag nach bestem Wissen und Gewissen ehrliche Arbeit leisten, wo der Kunde im Mittelpunkt und nicht im Weg steht.

Sie gesteht ein, das Rezept aus Angst so lange zurückgehalten zu haben. Aus Angst, sie würde eine Creme erhalten, die nicht das enthalte, was verordnet ist. Und der Notdienst war für sie die einzige Möglichkeit, eventuell die Herstellung mitzubekommen und ihre Bedenken zu äußern. Der tägliche Betrieb lasse all das nicht zu. Auch wenn es sich nur um eine Nasensalbe handele, von der weder Leben noch Tod abhänge, sei der Einblick in meine Arbeit für sie wichtig. Was will man da noch sagen?