Inkontinenzversorgung

Das Windel-Kartell der Kassen

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Berlin -

Inkontinenz ist eine Volkskrankheit, mindestens vier Millionen Menschen sind deutschlandweit betroffen. Die Versorgung mit Einlagen und Windeln sei katastrophal, sagt Stefan Süß vom Selbsthilfeverband Inkontinenz. Seiner Meinung nach setzen die Kassen bewusst auf Billigstanbieter – um die kompletten Kosten auf ihre Versicherten abzuwälzen. Er sieht die Apotheken in der Pflicht, gemeinsam mit den Betroffenen zu protestieren.

80 bis 95 Prozent der Kassenpatienten zahlen laut Süß bei Inkontinenzprodukten drauf oder übernehmen die Kosten gleich komplett selbst. Mitunter werde den Betroffenen von vornherein vom Arzt geraten, sich auf eigene Rechnung mit Windeln einzudecken. Pro Monat kommen laut einer Umfrage seines Verbands 50 bis 100 Euro zusammen, die der Versicherte aus eigener Tasche zahlen muss. Die Kasse dagegen beteilige sich nur mit einem Betrag von 15 Euro, obwohl sie für die Versorgung verantwortlich sei.

Auch wenn es seit jeher Billiganbieter gebe und Markenware noch nie ohne Aufpreis zu bekommen gewesen sei: Erst mit der Einführung der Ausschreibungen vor gut fünf Jahren sei der Markt gekippt, so Süß. Anders als bei Arzneimitteln können die Kassen bei Hilfsmitteln Selektivverträge mit einzelnen Leistungserbringern schließen – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen.

Laut Süß stellen die Kassen mit ihren Exklusivpartnern zwar in der Theorie eine kostenfreie, ausreichende Versorgung mit Windeln sicher. Die Billigware erfülle ihren Zweck oft aber nicht einmal annähernd. Für die Versicherten gebe es aber keine Alternative, denn sie könnten ihr Rezept ausschließlich beim Vertragspartner ihrer Kasse einlösen. Der Verbandsvize beschreibt die Masche der Lieferanten so: „Die wenigsten Versicherten wollen die meist zu dünnen, wenig saugaktiven Windeln haben. Die Versender spekulieren darauf, dass der Versicherte sich lieber ein Markenmodell zuschicken lässt.“

Da es für Hilfsmittel keine Preisbindung gebe, könne der Verkäufer den Preis selbst bestimmen – laut Süß liegt das Angebot für Markenware bis zu 30 Prozent über Listenpreis. „Die Kasse schießt zwar den gleichen Betrag zu, der auch für die Gratisvariante angefallen wäre. Doch für die Patienten ist der Bezug über den Partner oft sogar teurer als eine Bestellung vor Ort auf eigene Rechnung.“

„Die Versender betreiben echtes Preis-Dumping“, fasst Süß zusammen. Kein Hersteller könne einen Monatsbedarf Windeln für 15 Euro zur Verfügung stellen; das stelle man man schon fest, wenn man sich die Preise für vernünftige Produkte ansehe. „In der Pauschale, die die Versender erhalten, ist sogar noch der Preis für die Logistik enthalten, das muss man sich einmal vorstellen.“ Über die hohen Preise für die besseren Produkte könne der Kassenpreis niedrig gehalten werden.

Doch Süß sieht die Schuld auch bei den Kassen, die ja eigentlich für eine gute Versorgung verantwortlich seien: „Wenn ein Versicherter sein Rezept nicht einlöst, sondern sich die Windeln auf eigene Rechnung in der Drogerie kauft oder im Internet bestellt, ist das das Beste, was der Kasse passieren kann. Denn so wird sogar noch der Preis für die Grundversorgung eingespart.“ Er findet das Geschäftsmodell der Kassen „eine Frechheit“.

Unter den Kassen gibt es laut Süß für Versicherte mit Inkontinenz kaum noch Alternativen. Negativ stechen aus seiner Sicht DAK-Gesundheit, KKH, Barmer GEK und AOK Hessen hervor, die den Zuschlag an den billigsten Anbieter vergeben und Apotheken sowie Sanitätshäuser komplett aus dem Rennen werfen. „Versicherte dieser Kassen haben sehr oft Versorgungsprobleme“, sagt Süß. Besser sei seiner Erfahrung nach die AOK Rheinland/Hamburg, die ihren Versicherten Spielraum lasse und auch die Apotheken einbinde.

Für die meisten Kassen sei mit der Unterschrift unter den Liefervertrag die Sache beendet: Gebe es Probleme bei der Bestellung, etwa weil eine bestimmte Art Windel angeblich nicht Vertragsgegenstand sei, werde in der Regel an den Lieferanten verwiesen. Dieser sei wenig kulant und schiebe die Schuld auf die Kasse. Am Ende werde auf die Vertraulichkeit der Verträge verwiesen – ein Teufelskreis ohne echte Chance auf Entkommen.

Besonders unverschämt findet Süß, dass die Kassen sich der Situation bewusst sind und aus reinem Kalkül handeln: „Wenn ein Versicherter androht, dass er vor Gericht geht, knicken die Kassen regelmäßig ein“, erklärt er. „Sie übernehmen dann zum Beispiel die doppelte Pauschale oder einen Festbetrag – natürlich nur im Rahmen einer Einzelfallentscheidung. Zum Prozess kommt es nie. Die Kassen möchten keinen Präzedenzfall schaffen.“

Die meisten älteren Menschen nähmen die ständig steigenden Aufzahlungen sowieso hin. Nur die wenigsten Betroffenen wüssten, was ihnen eigentlich zustehe. Da die Krankenkassen ihre Verträge nicht offen legten, fehle für eine Verhandlung mit dem Versender jegliche Grundlage. Zudem sei, anders als von den Kassen behauptet, keine ausreichende oder gar zweckmäßige Versorgung gewährleistet. Süß ist sich sicher: „Hätte man so eine Situation in der Arzneimittelversorgung, gäbe das sofort einen Aufschrei.“

Die Apotheken vor Ort verlieren seit Jahren Marktanteile, da immer mehr Kassen von der Versorgung vor Ort auf den Versandhandel umstellen. Sofern Versicherte ihr Rezept dort nicht einlösen, gehen sie laut Süß lieber in die Drogerie, da diese die Produkte meist billiger anbieten. „Die meisten Betroffenen sind Rentner. Für sie ist der Preis umso wichtiger, wenn sie auf den Kosten sitzen bleiben.“

Der Selbsthilfeverband Inkontinenz kämpft gegen die aktuelle Situation, indem er immer wieder Petitionen lanciert. Vor einiger Zeit waren 16.000 Unterschriften zusammengekommen. Die Liste wurde an den Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), übergeben. Laumann hat Kassenpatienten aufgefordert, ihm Musterexemplare zu schicken, damit er das Problem vortragen kann.

In dieser Woche endet die Frist für eine neue Petition. Dass die erforderliche Zahl an Unterschriften zusammenkommt, hält Süß selbst für unwahrscheinlich: Das Quorum sei allein deshalb nicht zu erreichen, weil viele der Betroffenen alt seien und über keinen Internetanschluss verfügten. „Für mich ist das eine Form von Altersdiskriminierung.“

Für ihn sind Petitionen die letzte Chance im Kampf für die wohnortnahe Versorgung. „Sonst stellen die Kassen weiter auf die Versender um – dann wären die Apotheken endgültig raus“, argumentiert Süß. Die Apotheke als Bezugsquelle vor Ort sieht er aber nur als einen Leistungserbringern von mehreren, auf die Patienten mit Inkontinenz angewiesen seien. Denn auch die Aufklärung der Versicherten über den sachgemäßen Gebrauch von Einlagen und Windeln sei nicht gut geregelt.

„Die Anwendung von Hilfsmitteln ist wichtig und muss mit dem Kunden praktisch trainiert werden“, sagt Süß. In der Offizin sei dies nicht möglich. Viele Apotheken hätten zwar eine Beratungsecke, die jedoch für einen solch speziellen Fall nicht geeignet sei. Sein Verband fordert einen unabhängigen Freiberufler, der den Versicherten eine Beratung anbietet, die auch ganz praktische Aspekte wie das Anlegen der Windeln umfasst. „Das ist eine Leistung, die nur beim Kunden zu Hause zu leisten ist und die von den Krankenkassen bezahlt werden muss.“

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