Apotheken und Praxen reißen das Ruder rum

Impfkampagne: Es geht an die Substanz Tobias Lau, 27.04.2021 14:48 Uhr

Leere Impfzentren, volle Praxen: Die Impfkampagne kommt endlich in Fahrt – nicht zuletzt, weil sie jetzt größtenteils in Händen der wohnortnahen Gesundheitsversorgung liegt. Foto: APOTHEKE ADHOC
Berlin - 

Nun soll es plötzlich ganz schnell gehen: Erst startet die Impfkampagne als Debakel, kommt dann nicht voran – und auf einmal sieht es so aus, als ob bis Ende des zweiten Quartals die Hälfte der Bevölkerung mindestens erstgeimpft ist. Ein vom Himmel gefallener Segen ist das nicht. Im Gegenteil: Nicht im Himmel, sondern am Boden sitzen diejenigen, denen das jetzige Vorankommen zu verdanken ist. Daran zeigt sich aber auch, welchen Wert die Politik seit Jahren vernachlässigt, kommentiert Tobias Lau.

Es geht aus einem Grund voran: Die Impfkampagne wird in diesen Tagen final in die Hände des Bodenpersonals im Gesundheitswesen gegeben, Apotheker:innen und Ärzt:innen. Die Struktur der patienten- und wohnortnahen, inhabergeführten Versorgung verrichtet jetzt das, was die Organisationskünste von Bund und Ländern nicht können. Sie wird den Durchbruch ermöglichen.

Das ist symbolisch dafür, wo Deutschland im 21. Jahrhundert steht: Als das Land eine zentral gesteuerte Impfkampagne auf die Beine stellen musste, versagte es. Und das lag nicht daran, dass Kommunen beim Umbau der Messehallen in Rekordtempo versagt oder dass sich nicht genug Ärzt:innen, Apotheker:innen und PTA freiwillig zum Einsatz gemeldet hätten. Nein, der Fisch stinkt vom Kopf her – wie sich gerade wieder zeigt: Das Land hat eine Substanz, von der es gut lebt und auch in Krisenzeiten profitiert. Darin unterscheidet sich das Gesundheitswesen nicht von anderen Sektoren der Wirtschaft. Um die Innovationskraft ist es schlecht bestellt, aber der Motor der gealterten Industriegesellschaft brummt nach wie vor. Das Land ist stabil.

Natürlich spielte mangelnder Impfstoff bei den Schwierigkeiten zu Beginn der Impfkampagne eine wesentliche Rolle und die EU hat sich bei der Beschaffung wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Umgekehrt scheinen ihre Vorwürfe gegen Konzerne wie AstraZeneca durchaus stichhaltig. Nicht zuletzt Gerichte werden hier etwas mehr Klarheit bringen müssen. Ein großer, wenn nicht gar der größte Teil des Debakels war allerdings hausgemacht: Bürokratie, komplizierte und inkongruente Entscheidungsprozesse, Grabenkämpfe zwischen Interessengruppen, fehlende digitale Infrastruktur.

Die Bürger anderer Länder haben mit ein paar Klicks Termine für zentral gesteuerte Impfkampagnen erhalten. Die Türkei – wirtschaftlich wahrlich nicht auf Augenhöhe mit Deutschland – hat bei gleicher Bevölkerungszahl im ersten Monat ihrer Impfkampagne doppelt so viele Menschen geimpft wie Deutschland in den ersten beiden Monaten seiner Kampagne. Einfach ausgedrückt: Sie war viermal schneller. Denn während dort bereits alle Angelegenheiten von Bürgeramt, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung über Online-Portale geregelt werden, hingen die Menschen hierzulande teils stundenlang vergebens in Telefonwarteschlangen. Während in Israel rund um die Uhr unkompliziert zwischen Tür und Angel geimpft wurde, hing hier alles am Verfahrensweg. An den Einbrüchen bei Erfassung der Fallzahlen und Impfungen am Wochenende hat sich auch nach einem Jahr nichts geändert. Damit in Deutschland Beamte sonntags arbeiten, reicht eine globale Pandemie nicht aus. Die Hemdsärmlichkeit der Amerikaner und die Kreativität der Israelis fehlen hierzulande.

Was wir aber haben und was uns die Haut rettet, ist die gewachsene Struktur. Der Bund kann sich darauf verlassen, dass die Impfungen da ankommen, wo sie hingehören, ohne dass er allzu viel selbst erledigen muss. Er muss sie nur an den Großhandel liefern, von wo aus sie durch die Hände tausender Apotheken hin zu einer noch größeren Anzahl Arztpraxen gehen. Es ist ein eingespieltes System, das selbst die Erschwernis sich wöchentlich ändernder Vorgaben hervorragend pariert – dank Engagement und Kompetenz vor Ort. Das Land täte gut daran, diese Strukturen zu fördern und zu erhalten, statt immer größere Teile der Gesundheitsversorgung den Interessen von Aktiengesellschaften und deren betriebswirtschaftlicher Verwertungslogik anheimfallen zu lassen oder das sogar zu fördern.

Wohin das führt, lässt sich in den Kliniken mit ihren Kopfpauschalen sehen – oder aber am ausdünnenden Netz der Arzneimittelversorgung in strukturschwachen Regionen. Die Pandemie sollte klar vor Augen führen, dass Geld zur Aufrechterhaltung der flächendeckenden Gesundheitsversorgung mehr als gut investiert ist. Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern wir verbrauchen die Substanz, von der wir leben.