Azithromycin jetzt schon 70 Prozent teurer

Geheimdienstbericht: Engpässe und Preissteigerungen wegen Corona-Krise APOTHEKE ADHOC, 22.03.2020 11:33 Uhr

Besorgniserregnde Erkenntisse: Deutsche Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Corona-Krise die Gefahr von Arzneimittelengpässen erhöht. Foto: shutterstock.com/ Nitpicker
Berlin - 

Die deutschen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden befürchten wegen der globalen Corona-Krise Engpässe in der Arzneimittelversorgung. Das geht aus einem internen Bericht hervor, der am Wochenende öffentlich wurde. Es sei „eher wahrscheinlich“, dass China aufgrund der Produktionsausfälle in naher Zukunft seinen Export drosselt, um den eigenen Bedarf zu decken. Erste Preissteigerungen gebe es schon. Und die unmittelbaren Aussichten sind schlecht: Kurz- oder mittelfristig könne man nichts gegen die Abhängigkeit von der dortigen Wirkstoffproduktion tun – dazu sei eine langfristige Strategie erforderlich.

Ein gemeinsamer Bericht mehrerer deutscher Nachrichtendienste und Sicherheitsorgane befeuert die Ängste, dass es wegen der aktuellen Sars-CoV-2-Pandemie bald zu einer massiven Verschärfung von Lieferengpässen bei Arzneimitteln kommen könnte: In einem sogenannten „Sonderbericht Wirtschaftsschutz“, der dem Wirtschaftsmagazin Business Insider vorliegt, haben der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundeskriminalamt (BKA) Informationen zu den möglichen Auswirkungen der Krise auf die Arzneimittelversorgung zusammengetragen.

Die verfügbaren Informationen geben Grund zur Sorge: So sei es durch die Quarantänemaßnahmen in weiten Teilen Chinas zu Einbrüchen bei der Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln gekommen, was mittlerweile auch Indien beeinträchtige, wo einige der weltgrößten Generikaproduzenten sitzen. Die bezögen bis zu 80 Prozent ihrer Wirkstoffe aus China. Deshalb könne es künftig zu Preissteigerungen kommen.

„Nun gibt es erste Hinweise auf eine mögliche Verteuerung und Verknappung bedeutender Medikamente“, zitiert Business Insider aus dem Bericht. „Besonders betroffen ist nach glaubhaften nachrichtendienstlichen Informationen die Produktion von Antibiotika, von Schmerzmitteln, von Diabetesmedikamenten (wie Metformin) sowie Herz-Kreislauf-Medikamenten.“ So sei der Preis für das Antibiotikum Azithromycin allein in der vergangenen Woche um 70 Prozent gestiegen.

Für Deutschland sei das Versorgungsrisiko aufgrund der intransparenten Lieferketten kaum einzuschätzen. Allerdings seien für die Arzneimittelherstellung wichtige Provinzen wie Zhejiang stark von den Quarantänemaßnahmen stark betroffen und würden nur noch über eingeschränkte Produktionsmöglichkeiten verfügen. „Es ist eher wahrscheinlich, dass China zunächst seinen Eigenbedarf an diesen Medikamenten deckt und aufgrund eigener Engpässe den Export zurückfährt“, so der Bericht. Die deutsche Abhängigkeit von der dortigen Produktion zu verringern, dürfte aber so schnell nicht realistisch sein. „Eine Diversifizierung des Medikamentenmarkts wäre erst langfristig umsetzbar.“

Allerdings wäre eine Verringerung des Exports auch für China und Indien schlecht. Chinesische Unternehmen haben demnach allein im Jahr 2019 rund 150 Milliarden Euro auf dem globalen Arzneimittelmarkt verdient. Sowohl China als auch Indien hätten deshalb ein Interesse daran, sich in der Krise als zuverlässige Lieferanten zu profilieren. Das heiße im Umkehrschluss aber auch: Informationen über das wahre Ausmaß der aktuellen Krise würden daher „eher wahrscheinlich nicht offengelegt“.

Insbesondere der BND hat dabei ein Auge auf die Auswirkungen, die die Verwerfungen auf das globale Machtgefüge haben könnte. „Man ist sich der Abhängigkeit der Gesundheitsversorgung westlicher Länder von der chinesischen Medikamentenherstellung durchaus bewusst“, schreibt der Auslandsnachrichtendienst. „Zukünftig könnte dieser Zustand als indirektes Druckmittel Chinas für die Durchsetzung eigener Interessen dienen.“ In einem weiteren Bericht, der Business Insider ebenfalls vorliegt, hat der BND seine Erkenntnisse zur Lage in China detaillierter verfasst. „Obwohl die chinesischen Medien einen rationalen Umgang mit dem Coronavirus-Ausbruch propagieren, nimmt die Verunsicherung in der Bevölkerung weiter zu“, heißt es dort.

Es sei dabei ein „zunehmender Trend zur Selbsthilfe“ zu beobachten. „Hierbei vermischen sich medizinische Daten über das SARS-CoV-2 mit Gerüchten und Fehlinformationen. Dies führt vermehrt zu einer Selbstmedikation mit teilweise nebenwirkungsreichen Präparaten.“ Dazu trage auch bei, dass der chinesische Staatschef Xi Jinping selbst traditionelle chinesische Heilmittel gegen Covid-19 beworben habe. Die staatliche Nachrichtenagentur habe daraufhin Meldungen veröffentlicht, wonach zwei wissenschaftliche Institute das bereits nachgewiesen hätten. „Beide Institute unterstehen der chinesischen Regierung“, so der BND. Die Reaktion der Bevölkerung folgte prompt: Sämtliche Bestände der chinesischen Heilmittel seien innerhalb von wenigen Stunden ausverkauft gewesen.

Der BND hat aber auch Informationen zum illegalen Arzneimittelhandel gesammelt. Es gebe kriminelle Netzwerke, „die versuchen, aus der Not und Verunsicherung der Bevölkerung sowie dem Bedürfnis des Eigenschutzes Profit zu schlagen“. Deren Hauptgeschäft läuft demnach mit HIV-Medikamenten wie Lopinavir und Ritonavir. In Einzelfällen sollen beide gegen SARS-CoV-2 wirksam gewesen sein.

Nach Berichten darüber sei schnell ein Schwarzmarkt entstanden. Laut BND gab es sogar HIV-Patienten, die ihre privaten Reserven der antivitalen Präparate zu hohen Preisen an Interessenten verkauft haben. Auch würden entsprechende Mittel bereits aus Indien nach China geschmuggelt. Das führe allerdings zu dramatischen Nebeneffekten: Die auf dem Markt verfügbare Menge habe sich derart verknappt, dass chinesische Krankenhäuser die HIV-Medikamente nur noch bei den allerschwersten Fällen einsetzen können.