Faktencheck

Das müssen Sie zum EuGH-Urteil wissen

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Berlin -

Seit einer Woche erhitzt das EuGH-Urteil zu Rx-Boni die Gemüter. Die Apotheker sind entsetzt, ihre Standesvertretung ist in Aufruhr. Anwälte schlagen angesichts der fragwürdigen Begründung die Hände über dem Kopf zusammen, die Medien feiern das „Ende der Apothekerpreise“. Was das Urteil konkret bedeutet und welche Folgen es haben wird, welche Interessen die verschiedenen Protagonisten verfolgen und welche Alternativen möglich sind, erfahren Sie in unserem Faktencheck.

Was hat der EuGH entschieden?
Der EuGH hat die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Artikels 34 der europäischen Verträge bewertet. Da sie aus Sicht des Gerichts nicht gerechtfertigt ist, verstößt sie laut Urteil (C-148/15, 19. Oktober 2016) gegen Unionsrecht. Damit dürfen EU-Versandapotheken in Deutschland Boni gewähren, eine Begrenzung sieht das Urteil nicht vor.

Wie begründet der EuGH seine Entscheidung?
Ausländische Versandapotheken haben nur ein eingeschränktes Leistungsangebot und sind daher im Wettbewerb benachteiligt. Sie können nur über billigere Preise konkurrieren. Die Preisbindung ist aus Sicht des EuGH zudem keine geeignete Maßnahme, um die flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Hierzu hätte der deutsche Gesetzgeber Statistiken vorlegen müssen, so die Kritik des EuGH am Vortrag der Bundesregierung.

Ist die Preisbindung damit aufgehoben?
Nein. Die Preisbindung bleibt bestehen, nur müssen sich ausländische Versandapotheken nicht daran halten. Der EuGH hat in seiner Begründung dem deutschen Gesetzgeber allerdings nahegelegt, die Preisbindung insgesamt aufzugeben: Die Versorgung auf dem Land könne sichergestellt werden, wenn Apotheken dort mit weniger Wettbewerb höhere Preise verlangen könnten.

Dürfen deutsche Apotheken jetzt auch Rx-Boni gewähren?
Nein. Sie müssen sich weiter an die Preisbindung verschreibungspflichtiger Arzneimittel halten. Die Kammern haben ihre Mitglieder bereits ermahnt, sich auch im Sinne einer politischen Lösung rechtskonform zu verhalten.

Was passiert, wenn sie es trotzdem tun?
Verstöße können die Aufsichtsbehörden sanktionieren. Diese Entscheidungen sind nach einer Anhörung sofort vollziehbar. Der Apotheker kann dann gegen den Bescheid klagen. Wenn das Gericht hinreichende Anhaltspunkte sieht, dass die aktuelle Regelung nach Abschluss des Verfahrens keinen Fortbestand hat, kann es die aufschiebende Wirkung der Klage wieder herstellen. Der Apotheker dürfte dann bis zu einer endgültigen Klärung Rx-Boni gewähren. Außerdem können die Apothekerkammern berufsrechtlich gegen die Gewährung von Rx-Boni vorgehen. Wettbewerbsrechtlich können Apotheker von Konkurrenten oder Wettbewerbsverbänden abgemahnt werden.

Können Apotheken gegen die Ungleichbehandlung klagen?
Apotheker können nur gegen deutsche Kollegen klagen, sollten diese auch Rx-Boni gewähren. Ausländische Versandapotheken wegen deren Bonusmodellen zu verklagen, ist nach dem EuGH-Urteil aussichtslos. Will eine deutsche Apotheke selbst Rx-Boni gewähren, bleibt ihr nichts anderes übrig, als gegen das geltende Recht zu verstoßen und eine Untersagungsverfügung der Aufsicht zu kassieren oder sich verklagen zu lassen. Aponeo hat bereits angekündigt, gegen die Ungleichbehandlung vorzugehen.

Was will die ABDA?
Als wichtigste Sofortmaßnahme fordert die ABDA das Rx-Versandverbot. Laut ABDA-Präsident Friedemann Schmidt haben die Apotheker keine Zeit, andere Lösungen zu diskutieren. Die Existenz der kleinen Apotheken stehe auf dem Spiel. Auf lange Sicht sei man zwar auch bereit, Grundsatzdebatten über neue Ordnungsmodelle zu führen. Aber: „Für uns steht das Verbot des Versandhandels ganz oben auf der Agenda, und zwar jetzt und sofort“, so Schmidt.

Was unternimmt die ABDA?
Mit einer massiven Öffentlichkeitskampagne reagiert die ABDA auf das EuGH-Urteil und kämpft für das Rx-Versandverbot: Anzeigen werden in Tageszeitungen geschaltet, Plakate an Berliner U-Bahnhöfen aufgehängt, die „Wahlkreisapotheker“ sollen Briefe an ihre Abgeordneten in den Landesparlamenten und im Bundestag schreiben. Über die Aussagekraft des Motivs – ein Karabinerhaken mit der Headline „Sichern!“ – kann gestritten werden. Am Tag des EuGH-Urteils informierte die ABDA in einen Rundschreiben ihre Mitgliedsorganisation mit einer ersten Bewertung. Seitdem führen die Kammern und Verbände auf Landesebene Gespräche mit den Gesundheitspolitikern. Die ABDA sucht in Berlin den Kontakt zu den Gesundheitspolitikern der Koalition und zum Bundesgesundheitsministerium. Heute und morgen trifft sich der ABDA-Gesamtvorstand zu seiner turnusmäßigen Sitzung. Für Interviews und Erläuterungen der Kampagne steht ABDA-Präsident Schmidt allerdings nicht zu Verfügung.

Was plant die Politik?
Bislang wird noch diskutiert und abgewogen. Einig ist man sich über Parteigrenzen hinweg, dass der Gesetzgeber handeln muss. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ist mit den Koalitionsfraktionen im Gespräch. Einen konkreten Plan gibt es noch nicht.

Wann könnte es ein Rx-Versandverbot geben?
Theoretisch könnte die Politik schnell reagieren. Das Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG) ist vom Kabinett verabschiedet. Hier ließe sich ein Rx-Versandverbot anhängen. Das Gesetz geht jetzt ins parlamentarische Verfahren. Nach aktuellem Stand soll das AM-VSG im Februar oder März in dritter Lesung verabschiedet werden und im zweiten Quartal in Kraft treten.

Wäre ein Rx-Versandverbot rechtlich zulässig?
Das ist umstritten. Kritiker führen verfassungsrechtliche Bedenken ins Feld. Da der Versandhandel seit 2004 ohne nennenswerte Zwischenfälle etabliert sei, fehle eine gute Begründung, ihn wieder zu verbieten. Die Gegenseite beruft sich auf die strukturelle Unfähigkeit der Versandapotheken, eine Regelversorgung zu gewährleisten. Weil die Verbraucher für die Akutversorgung eine Apotheke vor Ort benötigen, müsse die Struktur wirtschaftlich geschützt werden. Damit ließe sich ein Rx-Versandverbot rechtfertigen, das der EuGH übrigens 2003 für zulässig erachtet habe.

Gibt es andere Möglichkeiten?
Da die ABDA tatsächlich ein Rx-Versandverbot als Plan B präsentierte, liegt die Vermutung nahe, dass andere Optionen verworfen wurden. Die Apotheken vom Inkasso der Zuzahlung freistellen, nimmt zwar den Anreiz für die Versicherten, nicht aber für die Kassen. Ein Switch des Honorars weg von der Packungspauschale hin zu einer Vergütung der ureigensten Leistungen der Vor-Ort-Apotheken wie Notdienst, Rezepturen und Beratung schnürt das Leistungsangebot der Apotheken auf. Die Streichung der Niederlande von der Länderliste des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) wird sich kaum rechtfertigen lassen. Ein Rückgriff auf das Sozialgesetzbuch, das Nullretaxationen vorsieht, wenn der Leistungserbringer sich nicht rechtskonform verhält, bringt ebenfalls ausschließlich deutsche Apotheken in die Bredouille, da sich DocMorris & Co. ja auf das EuGH-Urteil berufen können.

Wer unterstützt die Apotheker?
Die Union kann sich für ein Rx-Versandverbot erwärmen, auch aus den Ländern (Bayern, NRW und Hessen) kommen positive Signale. Die SPD ist skeptisch und schwankt zwischen Zustimmung zum Rx-Versandverbot und anderen Lösungen, vor allem über eine Anpassung des Apothekenhonorars. Leichte Unterstützung kommt auch aus der Ärzteschaft. Die Ärztekammern Westfalen-Lippe und Bayern sprechen sich ebenfalls für ein Rx-Versandverbot aus. Andere Verbände der Gesundheitsbranche wie die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser halten sich aber zurück.

Wie reagieren die Krankenkassen?
Die Kassen sind in Lauerstellung. Bei der Barmer GEK etwa begrüßt man das Urteil, da es einen Beitrag zu mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen leisten könne. Den Versicherten wird der Bonus aber im Grundsatz nicht gegönnt: Wirtschaftlichkeitsreserven stünden der Versichertengemeinschaft zu, sagte AOK-Chef Martin Litsch. Die Fachabteilungen der Kassen arbeiten unter Hochdruck an einer Lösung, wie sie mit den EU-Versendern ins Geschäft und dabei in den Genuss von günstigeren Preisen kommen können.

Wie verhält sich die Pharmaindustrie?
Die Hersteller dürften sich ebenfalls sehr für das EuGH-Urteil interessieren. Denn gerade bei teuren Medikamenten sind die Hersteller in der Pflicht, Erfolge zu liefern. Pay-for-performance-Vereinbarungen lassen sich am besten im Rahmen von integrierten Behandlungskonzepten umsetzen – im Ausland setzen die Pharmakonzerne daher bereits auf spezialisierte Versandapotheken (Specialty pharmacy). Nützlicher Nebeneffekt: Mehr Daten über sein Medikament kann kein Hersteller bekommen, als wenn er direkt an der Versorgung beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht (BverwG) hatte es vor zwei Jahren sogar für zulässig erklärt, dass Apotheken Arzneimittel auf fremde Rechnung abgeben – solange weder sie noch die Kunden dabei einen finanziellen Vorteil erhalten. Mit dem EuGH-Urteil ist auch diese Einschränkung vom Tisch.

Wie verhalten sich die Apotheker jetzt?
Die Apotheker haben den Glauben noch nicht aufgegeben, sie hoffen auf eine politische Lösung. Die ersten Pharmazeuten haben bereits Briefe an Abgeordnete geschickt. 71 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage von APOTHEKE ADHOC gaben außerdem an, sich weiter an die Preisbindung zu halten – so wie von den Kammern gefordert. 11 Prozent sind perplex über das Urteil und erstmal ratlos. Dagegen gaben 6 Prozent an, vorbereitet gewesen zu sein und ab sofort selbst Rx-Boni anzubieten. Weitere 8 Prozent sind noch nicht hundertprozentig sicher, werden aber vermutlich ebenfalls Rx-Boni anbieten.

Wie reagieren die Kunden?
Da Rezepte nach wie vor per Post eingeschickt werden müssen, ist der Ansturm bislang ausgeblieben. Das Medienecho war aber gewaltig und hat zu Nachfragen in den Apotheken geführt geführt. Bei einer Umfrage von APOTHEKE ADHOC gaben 41 Prozent der Teilnehmer an, dass es eher allgemeine Fragen zum Thema gebe. 17 Prozent berichten über zynische Einlassungen, weitere 12 Prozent haben bereits Kundenverluste bemerkt. Laut 4 Prozent der Teilnehmer wird bereits knallhart verhandelt. Immerhin 12 Prozent gaben an, dass sich die Kunden auch solidarisch erklärten.

Was bedeutet der Rx-Bonus für die Zuzahlungsbefreiung?
Laut DocMorris-Vorstand Max Müller ist der Bonus kein Erlass der Zuzahlung, auch wenn er früher als solcher beworben wurde. In Heerlen sieht man die Prämie als Belohnung für die Einsendung des Rezepts. Zuzahlungsquittungen werden daher über den vollen Betrag ausgestellt. Die Rechtmäßigkeit dieser Position ist laut Müller noch strittig.

Welche Regeln stehen noch auf der Kippe?
Das Urteil betrifft zunächst ausschließlich die Zulässigkeit von Boni. Doch der EuGH hat das Grundprinzip des sogenannten Marktortprinzips außer Kraft gesetzt, also die Geltung der Regeln jenes Landes, in das geliefert wird. Daher könnten sich die Versender beispielsweise mit den Kassen auch auf Selektivverträge einigen, die hierzulande nicht zulässig sind.

Wie unterscheidet sich eine niederländische (Versand)apotheke von einer deutschen?
Für den Betrieb einer Apotheke in den Niederlanden gilt niederländisches Recht; dass es kein Fremd- und Mehrbesitzverbot gibt, war die entscheidende Triebfeder für den grenzüberschreitenden Handel. Doch auch die Spielregeln vor Ort werden nicht immer eingehalten, denn nicht alle niederländischen Vorschriften lassen sich mit den deutschen in Einklang bringen, zum Beispiel was die Kontrolle und Archivierung der Rezepte, die Pflege der Patientenakten, die Lagerung der Medikamente oder die Etikettierung der Packungen angeht. Als vor einigen Jahren ein Ex-Apotheker der Europa Apotheek Venlo Anzeige erstattete, drohte den Versendern ein Fiasko. Doch am Ende griffen die Behörden weniger hart durch als ursprünglich angekündigt.

Hat DocMorris ein „Steuerthema“?
Dass sich niederländische Versandapotheken das Mehrwertsteuergefälle zunutze machen, wird immer wieder kolportiert, hat aber wohl keine Grundlage (mehr): Die Lieferanten drucken auf ihren Rechnungen die EU-Steuer-ID des Empfängers und saldieren ohne deutsche Mehrwertsteuer. DocMorris & Co. müssen den Krankenkassen seit einer Klarstellung des Bundesfinanzministeriums ebenfalls Nettobeträge in Rechnung stellen; die Kassen führen die Mehrwertsteuer selbst ab. Das letzte Schlupfloch wird im Frühjahr geschlossen: Dann muss das Rechenzentrum die relevanten Informationen liefern – bislang konnten die Kassen nicht nachvollziehen, welche Apotheke hinter der Rechnung steht.

Woher bekommen die EU-Versender ihre Ware?
Da deutsche Arzneimittel im Ausland nicht verkehrsfähig sind, müssen DocMorris & Co. bei deutschen Zwischenhändlern einkaufen. Gehe ist traditionell ein wichtiger Lieferant; die vor drei Jahren geschlossene Niederlassung in Düsseldorf soll einen Großteil ihres Umsatzes mit der damaligen Schwesterfirma in Holland gemacht haben. Die Konditionen waren wegen ihrer Sprengkraft Chefsache und nicht einmal die Verantwortlichen vor Ort bekannt.

Wie kam es zu dem EuGH-Verfahren?
Die Wettbewerbszentrale hatte gegen ein Bonus-Modell der Versandapotheke DocMorris mit der Deutschen Parkinson Vereinigung (DPV) geklagt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Anders als der Gemeinsame Senat der obersten Bundesgerichte und das Bundesverfassungsgericht befand das OLG die deutsche Preisbindung als europarechtlich relevant.

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