Apotheken bieten E-Rezepte – aber niemand will sie

E-Rezept-Projekt MORE: Ein äußerst erfolgreicher Flop Tobias Lau, 26.02.2021 10:01 Uhr

Kein Anschluss, keine Nachfrage: Beim E-Rezept-Projekt MORE in Hessen wurden exakt null E-Rezepte verarbeitet. Foto: shutterstock.com/ Olena Yakobchuk
Berlin - 

Das hessische Pilotprojekt „Mein Online-Rezept“ (MORE) wurde hoch gelobt und sogar als besonders innovatives Technologieprojekt ausgezeichnet. Nun steht die Auswertung an – und nach Informationen von APOTHEKE ADHOC dürfte die weitaus weniger positiv ausfallen, als es der Hessische Apothekerverband (HAV) gegenüber den Projektteilnehmern darstellt. Denn auch wenn die technischen Strukturen leistungsfähig gewesen sein sollten – die tatsächliche Nachfrage war mehr als überschaubar. Die 600 teilnehmenden Apotheken haben exakt null E-Rezepte beliefert. Als Flop will HAV das Projekt dennoch nicht bezeichnen.

Mit MORE hatten HAV, die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KV), mehrere Krankenkassen sowie die Technikdienstleister Optica und Noventi ein leistungsstarkes System zur Ausstellung, Versendung und Belieferung von elektronischen Verordnungen in Kombination mit der Durchführung von Videosprechstunden auf die Beine gestellt – nur leider hat sich außerhalb des Gesundheitswesens niemand dafür interessiert. So könnte man wohl das kurz vor Abschluss stehende Pilotprojekt zusammenfassen. Denn am 31. März endet es vertragsgemäß und die Projektpartner bereiten sich gerade darauf vor, öffentlich ein Fazit zu ziehen.

In der offiziellen Kommunikation gegenüber den teilnehmenden Apotheken klingt dessen Marschrichtung bereits durch: „Der HAV hat zusammen mit Ihnen sein Ziel im Projekt erreicht: Flächendeckend konnten die hessischen Apotheken ihren Patienten die Belieferung elektronischer Rezepte anbieten, noch bevor hierfür der bundesweite Startschuss gefallen ist“, schreibt der HAV-Vorsitzende Holger Seyfarth am Dienstag in einer Benachrichtigung an die teilnehmenden Apotheken, die APOTHEKE ADHOC vorliegt. Zudem hätten die Teilnehmer die Chance genutzt, „sich intensiv mit dem Thema E-Rezept auseinanderzusetzen und sich auf die neue Technologie vorzubereiten“. Regelmäßige Anfragen von Presse und hessischem Gesundheitsministerium sowie nicht zuletzt die Auszeichnung des Dienstes für Gesellschaftspolitik als herausragende digitale Anwendung im Gesundheitswesen, hätten gezeigt, „dass unsere Botschaften ankamen“, so Seyfarth: „Wichtig insbesondere für Sie: Auch Ihre Patienten haben gelernt, dass sie E-Rezepte selbstverständlich in ihrer Apotheke vor Ort einreichen können.“

Ob die hessischen Versicherten das gelernt haben, sei dahingestellt – genutzt haben sie es jedenfalls nicht. „Selbst wenn Sie im Rahmen des Projektes keine Gelegenheit hatten, ein E-Rezept zu beliefern, war Ihre Teilnahme eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung des Projektes“, deutet Seyfarth in seiner Mitteilung bereits an. In einer E-Mail der Geschäftsführung des Verbands, die APOTHEKE ADHOC ebenfalls vorliegt, klang das vorläufige Urteil im Dezember noch bedeutend drastischer: Nicht nur sei „trotz der langen Laufzeit seit März 2020“ bisher „kein einziges E-Rezept ausgestellt“ worden, sondern es seien im Rahmen des Projekts seitdem auch nur ganze vier Videosprechstunden durchgeführt worden – und der Verband könne noch nicht einmal sagen, ob es sich bei diesen vier nur um Tests gehandelt hat.

Auch dass sich dafür die Erprobung der technischen Infrastruktur als Erfolg herausgestellt habe, klingt in der E-Mail nicht wirklich durch – eher das Gegenteil: Denn von den 600 teilnehmenden Apotheken hätte nur ein kleiner Teil überhaupt E-Rezepte empfangen können, da deren Verarbeitung im Warenwirtschaftssystem nur mit einem bestimmten Software-Produkt von Noventi möglich sei. Noventi war dem Projekt im August beigetreten und hatte bereits damals für sich beansprucht, als einziger Warenwirtschaftsanbieter eine Schnittstelle für die Integration in die Apotheken-EDV zu bieten. Auch die Abrechnung über die hauseigenen Rechenzentren VSA, ALG und SARZ werde dadurch ermöglicht. Wer keinen Zugang zu dieser Schnittstelle hatte, musste der HAV-Mail zufolge alles andere „zu Fuß mit einem PDF-Ausdruck erledigen“. Wegen dieser Schwierigkeiten sei davon auszugehen, dass teilnehmende Apotheken bei dem Projekt „auch kein E-Rezept sehen werden“.

Dennoch, beim HAV will man das Projekt nicht als Misserfolg werten – denn was zähle, sei die Außenwirkung. „Unser Interesse war es, den Patienten flächendeckend ein Angebot zu unterbreiten, elektronische Rezepte zu bedienen“, erklärt Katja Förster, beim HAV für die Leitung des Projekts zuständig, auf Anfrage. „Wir sehen das Problem, dass E-Rezepte in den Augen vieler Verbraucher mit Versandapotheken gleichgesetzt werden. Mit diesem Projekt konnten die hessischen Vor-Ort-Apotheken den Patienten aber zeigen, dass das nicht der Fall ist.“ Förster verweist darauf, dass die Zahlen aus der Mail vom Dezember – null und vier – nicht mehr zwangsläufig aktuell seien, räumt aber ein, dass das Angebot nicht wirklich auf eine nennenswerte Nachfrage stieß: „Die Versicherten haben die Videosprechstunde leider nicht in dem Maße genutzt, wie wir uns das gewünscht hatten.“ Die Erwartungen des HAV seien nicht erfüllt worden.

Die Anwendungstests hätten belegt, dass das Modell prinzipiell funktioniere, allerdings seien diese technischen Fragen für den HAV eher von peripherem Interesse gewesen, da der Fokus auf der Vermittlung der Fähigkeit zu Empfang und Verarbeitung von E-Rezepten nach außen gelegen habe. Eine Einschätzung zur ausbleibenden Nachfrage sowie Gründen und Schlussfolgerungen daraus werde der Verband deshalb im Moment noch nicht abgeben. „Wir werden das Projekt Ende März gemeinsam mit den anderen Partnern auswerten und uns dann gegenüber der Presse gemeinsam äußern“, erklärt Förster. „Deshalb möchten wir im Moment noch kein Fazit ziehen und damit den anderen Partnern vorgreifen.“