Digitalisierung

E-Rezept & Co: Warum Deutschland hinterherhängt Tobias Lau, 20.08.2019 14:12 Uhr

Wenig Vertrauen: Danach gefragt, welche Akteure im Gesundheitswesen wirk­same digitale Lösungen entwickeln können, landet Deutschland in allen Kategorien auf dem letzten Platz. Foto: Sopra Steria
Berlin - 

Die Bevölkerung in Deutschland wartet auf eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch E-Rezept, elektronische Patientenakte und weitere digitale Anwendungen. Doch Politik und Leistungserbringer ignorieren die Bedürfnisse der Patienten und verschlafen es, bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens den deutschen Rückstand aufzuholen – zum Teil aus Unfähigkeit, zum Teil, weil sie nicht über alte Vorbehalte hinwegsehen wollen. Zu diesem Ergebnis kommt die Unternehmensberatungsgesellschaft Sopra Steria in einer neuen Studie. In Deutschland sei der Blick der Bevölkerung auf das Gesundheitswesen auch deshalb kritischer als anderswo.

Rund drei Viertel der Deutschen gehen demnach davon aus, dass die Digitalisierung die Gesundheitsversorgung verbessert. Während elektronische Patientenakte und elektronisches Rezept beispielsweise in Estland seit zehn Jahren Realität sind, kann der deutsche Patient noch nicht einmal Daten auf seiner Versichertenkarte speichern. Das sorgt offenbar für Frust in der Bevölkerung: Laut einer Befragung, die Teil der Studie war, geht mit 44 Prozent fast die Hälfte der Deutschen davon aus, dass sich das Gesundheitssystem in den letzten zehn Jahren verschlechtert hat, nur 27 Prozent glauben, dass die Gesundheitsversorgung besser geworden ist. 29 Prozent gaben an, es habe sich nicht verändert.

Dass Deutschland im Vergleich mit dem Rest Europas hinterherhinkt, befand auch die Bertelsmann-Stiftung bereits in einer Studie. Dabei wird aus Verbrauchersicht offensichtlich eine Menge Potenzial liegen gelassen: 76 Prozent gaben an, dass digitale Lösungen die Qualität des Gesundheitssystems verbessern können. Auch der Vorbehalt, Gesundheitsdaten mit anderen zu teilen, scheint geringer als gemeinhin angenommen: 73 Prozent der befragte würden demnach mehr Daten zu ihrer elektronischen Krankenakte senden – wenn denn eine zufriedenstellende Lösung zur Verfügung stünde. Doch die beteiligten Akteure scheiterten bisher daran, technische Innovationen in der Gesundheitsversorgung umzusetzen.

Die Unternehmensberater haben sich die Gesundheitssysteme in Deutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Norwegen und Spanien angesehen und kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: „In Deutschland haben es Entwickler digitaler Ge­sundheitslösungen schwerer als in den übrigen fünf untersuchten Ländern. Das Vertrauen in die unterschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen ist hierzulande unterdurchschnittlich stark ausge­prägt.“ Unterdurchschnittlich heißt in dem Fall: In keinem der untersuchten Länder wird Apothekern, Ärzten und Krankenhäusern weniger Vertrauen entgegengebracht als in Deutschland. Nur 72 von 200 Befragten sagten, dass Apotheker, Ärzte und Kliniken fähig sind, wirksame digitale Lösungen zu entwickeln. Immerhin: Selbst bei Spitzenreiter Großbritannien ist es mit 89 nicht einmal die Hälfte der Befragten.

Bei den anderen Beteiligten sieht es noch schlechter aus: Bei den Gesundheitsbehörden sind es in Deutschland nur 57 Befragte, bei EU und innovativen Unternehmen jeweils 48, bei den Krankenversicherungen 43 und der pharmazeutischen Industrie 38. Mit einigem Abstand Schlusslicht sind ausgerechnet die fünf Tech-Riesen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, die mit Milliardeninvestitionen versuchen, auf den Gesundheitsmarkt vorzustoßen. Ihnen traut nur ein Achtel der Befragten zu, digitale Lösungen für das Gesundheitswesen zu entwickeln. Dabei seien sie es, die technisch und finanziell die größten Potenziale haben. Was auffällt: In allen Einzelkategorien ist Deutschland Schlusslicht.

Warum ist Deutschland anders als beispielsweise Norwegen, Belgien oder Estland nicht in der Lage, digitale Anwendungen ins Gesundheitssystem zu integrieren? Der Bedarf der Bevölkerung ist offensichtlich gegeben. „Viele derzeit entwickelte Lösungen scheitern allerdings bei den medizinischen Leistungserbringern“, so die Studienautoren. „Sie entsprechen nicht den Anforderungen der alternden Ärzteschaft oder lassen sich nicht in den Versorgungsablauf sowie die vielen unterschiedlichen Systeme der Kliniken und Praxen integrieren. Das führt zu Widerstand und reduziert den Erfolg eines flächendeckenden Rollouts.“ Außerdem sehen die Studienautoren ein Mentalitätsproblem: Hierzulande sei die Skepsis besonders groß, es gebe eine „allgemeine Unsicherheit, neue Wege bei der Behandlung und bei der Zusammenarbeit der Beteiligten zu gehen.“ Deshalb sei „eine Veränderung in der Kultur“ notwendig. Die Patienten warten auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Dieser Gedanke sollte bei den Entscheidungsträgern und den Leistungserbringern stärker verankert werden.“

Außerdem spielten die föderale Struktur und die Beschaffenheit der Selbstverwaltung eine maßgebliche Rolle. „Die Selbstverwaltung hat zu vielen Einzelinitiativen und Insellösungen geführt.“ Denn flächendeckende digitale Anwendungen müssen so entwickelt werden, dass sie mit den einzelnen Bestimmungen und fragmentierten IT-Infrastrukturen der Akteure in verschiedenen Bundesländern und Kommunen kompatibel sind. „Das erhöht die Komplexität und Kosten und schreckt viele Anbieter ab.“