Wahlaufruf/Kommentar

Das Apotheken-A ist nicht braun Alexander Müller, 22.09.2017 10:22 Uhr

Berlin - 

Nach Lage der Dinge werden am Sonntag erstmals seit der Wiedervereinigung sechs Parteien in den Bundestag gewählt. Die FDP steht nach ihrem Desaster von 2013 vor dem Comeback und die rechtspopulistische AfD wird wohl nicht an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Aus den Apotheken sollte Letztere eigentlich keine einzige Stimme erhalten. Ein Wahlaufruf und Kommentar von Alexander Müller.

Apotheken sind per se integrativ. Jeder Patient wird ohne Ansehen der Person versorgt – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion. „Kontrahierungszwang“ ist ein hässliches Wort und meint eigentlich etwas anderes, berührt aber den Kern der Apotheke: Jeder wird bedient, jedem wird geholfen, so gut es geht. Auch wenn es sich nicht immer auf den ersten Blick lohnt. Bei den allermeisten, bei den guten Apotheken vor allem, ist es eine Kontrahierungsüberzeugung.

Die Apotheke ist ein Querschnitt der Gesellschaft, mehr als ein Fußballverein. Krank wird schließlich jeder einmal. Und wer krank ist, ist schwächer als sonst. Die Apotheke ist für die Schwachen in der Gesellschaft da, für kranke Menschen, für alte Menschen. Die Apotheke ist Teil eines Gesundheitssystems, das solidarisch organisiert und finanziert ist. Und das selbst zunehmend auf Unterstützung „von außen“ angewiesen ist, Stichwort Fachkräftemangel, vor allem in der Pflege und im Krankenhaus.

Die Apotheke ist auch auf der anderen Seite des HV-Tischs bunt, in mancher Offizin werden ein Dutzend Sprachen und mehr gesprochen. Wie soll man über diese Vielfalt anders als froh sein? Nicht zuletzt passt auch das christlich-fundamentalistische und dezidiert antifeministische Gesellschaftsbild der AfD nicht in die Apotheken, von denen jede zweite von einer unabhängigen Frau geleitet wird. Und in der mehr als 70 Prozent der Angestellten weiblich sind.

Die Bundestagswahl am kommenden Sonntag wird in einer Hinsicht recht langweilig: Die Kanzlerfrage ist nach menschlichem Ermessen geklärt. Spannend bleibt neben der Koalitionsfrage, und als Ausgangspunkt zu dieser, das Rennen um Platz 3. Die Unschärfe der Befragungen sowie die verstörend hohe Anzahl an noch nicht Entschiedenen macht alles möglich: Die Linke, die Grünen, die FDP und die AfD können sich noch berechtigte Hoffnungen machen, drittstärkste Fraktion zu werden. Und ich hoffe sehr, dass es eine der drei erstgenannten Parteien wird.

Gerade für den denkbaren Fall einer Fortsetzung der großen Koalition wäre es schwer erträglich, die Oppositionsführerschaft einer Fraktion überlassen zu sehen, deren Mitglieder teilweise nicht einmal für die Grundwerte eintreten, die das hohe Haus eigentlich verteidigen soll. Stattdessen wird dann Redezeit für die „erinnerungspolitische Wende“ vergeudet.

Fakt ist: Wenn die AfD 10 Prozent holt, werden rund 60 Abgeordnete im Bundestag sitzen. Mit Sicherheit nicht alles Nazis, aber mit großer Sicherheit auch nur wenige Abgeordnete, die sich uneingeschränkt für Gleichberechtigung, Glaubens-, Presse- und Meinungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaft und Forschung und so weiter einsetzen würden. Eine Fraktion, in der eine Frauke Petry mittlerweile in der Mitte angekommen und einigen in ihrer Partei zu moderat ist.

Es treten mehrere Parteien außerhalb des demokratischen Common Sense an, aber nur die AfD ist angekommen in der politischen Landschaft. Mit bewussten Provokationen, anschließend stets changierend zwischen „Das war ja nicht so gemeint“ und „Das wird man jawohl noch sagen dürfen“. Mit verschleppten Parteiausschlussverfahren, damit weiterhin auch das eindeutig rechtsradikale Wählerspektrum angesprochen wird. Niemand darf sich etwas vormachen: Diese Menschen und ihr Gedankengut wählt man mit, wenn man der AfD seine Stimme gibt. Dies aus Protest oder Ärger über die „etablierten Parteien“ zu tun, wäre leichtsinnig und falsch.

Lange lebte die Hoffnung, dass das politische Erbe der Bundesrepublik ihre Einwohner immun machen würde gegen die rechtspopulistische Versuchung. Als in den vergangenen Jahrzehnten rund um uns herum in Europa die rechten Parteien schon massiv Zulauf erhielten, war die Sorge hier noch eine stolz-distanzierte. Selbst als die AfD bei der Bundestagswahl 2013 den Einzug ins Parlament knapp verpasste, bestand noch Hoffnung, die Rechtspopulisten mochten eine einmalige Chance ausgelassen haben. Und dass sich der Hype bis zum nächsten großen Urnengang womöglich legen würde.

Doch die folgenden Landtagswahlen zeigten schnell, dass sich der Pirateneffekt nicht wiederholen würde, wonach eine neue Partei ein aktuelles und wichtiges Thema in den politischen Diskurs einbrachte und mit der Erfüllung dieser Aufgabe im politischen Allgemeingut versank. Dass es der AfD genauso gehen könnte, war eine törichte Hoffnung. Weil sie gar kein Thema bringt, sondern eine Gesinnung. Weil der verzweifelte Versuch, Volk und Nation wieder gleichzusetzen und sich in Isolation von den Anderen abzugrenzen, offenbar bei vielen Menschen verfängt.

Im vergangenen Jahr bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt wurde die AfD zweitstärkste Partei – aus dem Stand hat fast jeder vierte Wähler seine Stimme den Rechtspopulisten gegeben. Seit Juni sitzen diese nunmehr in 13 Landesparlamenten. Wenn man bedenkt, dass die Union und die SPD bei der Bundestagswahl 2002 noch mit jeweils 38,5 Prozent Kopf an Kopf ins Ziel gingen und im Herbst 2017 erstmals seit der Wiedervereinigung eine Fraktion rechts von der CDU/CSU im Bundestag sitzen wird, dann ist der politische Trend nach rechts nicht zu übersehen.

Dazu kann man stehen wie man will. Aber es ist und bleibt der falsche Weg, Randgruppen in der Gesellschaft auszuspielen und Politik mit der diffusen Angst der Menschen zu machen. Wie sagte es Volker Pispers so schön: „Man muss nicht für alles Verständnis haben – vor allem nicht für Leute, die ihren Fremdenhass hinter der Angst vor dem Islam verstecken.“ Deshalb gehen Sie bitte zur Wahl und sorgen Sie dafür, dass die Stimmen der Demokraten lauter bleiben als der Hass.

Der Beitrag ist eine persönliche Einschätzung des Autors, der vom Herausgeber hier aus voller Überzeugung Platz eingeräumt wurde.