Nach Retax spielt Kasse auf Zeit

AOK hat „keine Energie“ für Gerichtsprozess

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Berlin -

In einem jahrelangen Rechtsstreit um verschiedene Retaxationen gegen eine Apothekerin verweigert die AOK Bayern schlichtweg die Fortführung des Verfahrens. In erster Instanz hat die Kasse verloren, verzögert den Fortgang des Prozesses aber mit allen Mitteln. Der Anwalt der Apothekerin hat jetzt einen Brandbrief an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) geschrieben. Die Aufsichtsbehörde der Kasse will dagegen vorerst nicht aktiv werden.

Apothekerin Beatrix Stadler wurde retaxiert, nachdem sie mit der AOK Bayern unvermeidbare Verwürfe bei der Herstellung parenteraler Zubereitungen abgerechnet hatte. Sie beruft sich auf die verbindlichen Haltbarkeitsangabe der Hersteller, die AOK auf Studien, die eine über die Fachinformation hinausgehende Haltbarkeit nahelegen. Das Verfahren läuft seit 2014. Vor dem Sozialgericht München hat Stadler vollumfänglich gewonnen. Jetzt wäre eigentlich die Kasse am Zug, ihre Berufung zu begründen.

Doch zunächst hat die AOK um Fristverlängerung gebeten und auf laufende Vergleichsverhandlungen mit Stadler verwiesen. Das Angebot sah laut Dr. Franz Stadler, dem Ehemann der klagenden Apothekerin, wie folgt aus: Telefonisch habe die Kasse angeboten, gut die Hälfte der retaxierten Beträge erstatten, wenn Stadler die Klage zurückzieht. Die AOK bestätigt oder widerspricht solchen Aussagen nicht, da sie sich zu laufenden Verfahren grundsätzlich nicht äußert. Die Stadlers wollten sich nach ihrem Erfolg in erster Instanz auf diesen Deal nicht einlassen und forderten eine Fortführung des Verfahrens vor dem LSG. Sie wünschen sich eine grundsätzliche Klärung der Frage.

Doch die AOK spielt weiter auf Zeit: Dem Gericht teilte die Kasse mit, dass die außergerichtlichen Verhandlungen leider gescheitert seien – die Vorstellungen beider Seiten hätten zu weit auseinander gelegen. Aber: Man setze darauf, dass es in einem Verfahren gegen eine andere Apotheke in absehbarer Zeit zu einer Entscheidung wird. Eigentlich habe das SG Nürnberg hier nämlich schon im Dezember sein Urteil verkünden wollen. Doch der Termin musste wegen Arbeitsüberlastung der Kammer verschoben werden, Ende Januar vertagte man sich pandemiebedingt erneut. Jetzt soll laut AOK im Mai ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden werden. Und: Die klagende Apotheke habe der Sprungrevision zum Bundessozialgericht (BSG) zugestimmt, das SG habe der Kasse zugesichert, dem zuzustimmen.

Die AOK hofft daher auf eine schnellere Entscheidung in diesem Fall, der den Stadlers aber nach eigenem Bekunden unbekannt ist. Bis dahin will sie mit den Stadlers nicht weiter streiten. Statt wie längst überfällig die eigene Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zu begründen, will die Kasse „davon absehen, weitere juristische Aktivitäten in diesem Verfahren zu entfalten“. Sie müsse arbeitsökonomisch denken und ihre Energie und Zeit in das Revisionsverfahren zur Klärung derselben Rechtsfrage stecken, schreibt die Kasse zur Begründung an das Gericht. Der Fall in Nürnberg sei am breitesten aufgestellt und sei von der AOK daher ausgewählt worden, ihm dem BSG vorzulegen. Es sei der Kasse selbst „unangenehm“, dass sich das Verfahren in Nürnberg so lange hinzieht. Trotzdem bittet die Kasse um ein weiteres Ruhen des Verfahrens vor dem LSG.

Stadlers Anwalt findet das Vorgehen unerhört. Soweit die Kasse „über Arbeitsökonomie und die sinnvolle Investition ihrer Zeit und Energie sinniert und danach ‚weitere juristische Aktivitäten‘ ablehnt, stellen ihre Ausführungen eine inakzeptable Zumutung dar“. Denn wenn die AOK jahrelang Energie investiere, um einem Leistungserbringer widerrechtlich Geld wegzunehmen, müsse sie sich zumindest der rechtlichen Auseinandersetzung stellen. Apothekerin Stadler habe es sich auch nicht aussuchen können, ob sie ihre Zeit und ihr Geld in einen „quälenden Sozialgerichtsprozess oder besser in sinnvolle Aktivitäten investiert“.

Die AOK verspotte alle Verfahrensbeteiligten, wenn sie sich mit der „Unlust oder Überlastung einer Justiziarin herausredet“ oder vortrage, der Fall sei nicht breit genug aufgestellt, so Stadlers Anwalt weiter. Die AOK befinde sich nicht in einer juristischen Seminarveranstaltung, sondern in einem sozialgerichtlichen Verfahren mit den entsprechenden Pflichten. Dazu gehöre die Berufungsbegründung. Es sei unverständlich, dass die Kasse hierzu offenbar noch nicht einmal aufgefordert worden sei, beschwert sich der Anwalt.

Dr. Franz Stadler versucht parallel, die Politik für die Streitfrage zu sensibilisieren. Denn aus seiner Sicht sind die Apotheken in einer Zwickmühle: Entweder lassen sie sich wegen der unvermeidliche Verwürfe von der AOK retaxieren und erleiden wirtschaftlichen Schaden oder sie verwenden die Anbrüche weiter und riskieren damit letztlich die Gesundheit der Patient:innen. Er hat um ein Gespräch im Bayerischen Gesundheitsministerium (StMGP) gebeten mit dem Ziel, ein aufsichtsrechtliches Verfahren gegen die AOK einzuleiten. Sogar der CSU-Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath war mit von der Partie.

Doch aktuell sieht die Aufsicht keinen Anlass, einzuschreiten. Denn nach dem Gespräch hat das Ministerium eine Stellungnahme von der AOK eingeholt. Die Kasse habe darauf verwiesen, dass die Beurteilung der Haltbarkeit und weiteren Verwendbarkeit der Anbrüche auf Grundlage wissenschaftlicher Fakten zu den originären Aufgaben des Betreibers eines Sterillabors gehöre. Andere Apotheker würden sich dieser Aufgabe laut AOK nicht entziehen. Die Patientensicherheit sei deshalb auch nicht gefährdet.

Dem schließt sich das StMGP in einem Schreiben an Stadler an: „Aus unserer Sicht ist nicht davon auszugehen, dass Apotheker allein aus wirtschaftlichen Gründen ohne Vornahme einer eigenen Validierung und ohne entsprechende valide Daten von den Vorgaben der Fachinformationen abweichen, da sie auch die Verantwortung für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von rezepturmäßig hergestellten Arzneimitteln tragen“, schreibt der zuständige Ministerialrat. Da zudem das Verfahren vor dem LSG noch laufe, sei ein Einschreiten der Aufsicht aktuell nicht geboten.

Stadler hält dagegen, dass die herstellende Apotheke nur für die Qualität der Zubereitungen die Verantwortung tragen könne. „Wirksamkeit und Unbedenklichkeit können nur dadurch verantwortlich sichergestellt werden, indem sie den Vorgaben der Fachinformation des zuzubereitenden Fertigarzneimittels folgen.“ Nur diese Angaben seien von den Zulassungsbehörden geprüft. Andere Quellen könnten nicht als seriös und valide eingestuft werden. Zudem könnten Untersuchungen hinsichtlich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit selbst bei bestem Willen durch eine zubereitende Apotheke nur mit einem erheblichen, technisch und finanziell nicht darstellbaren Aufwand erfolgen, so Stadler.

Die Sozialgerichte hätten das in mehreren Verfahren genauso gesehen und den klagenden Apotheken jeweils recht gegeben. Die ausgesprochenen Retaxen hätten schließlich nichts mit der üblichen Weiterverarbeitung von Anbrüchen bei der Zubereitung von Sterilrezepturen zu tun, es seien unvermeidliche Verwürfe.

Das Ministerium sieht dagegen keine Anhaltspunkte, dass Patienten nicht sicher mit wirksamen Zubereitungen versorgt werden. Stadler hatte in seiner Replik darauf verwiesen, dass auch im Bottroper Zyto-Skandal jahrelang vermutlich wirkstoffreduzierte oder sogar wirkstofffreie Infusionsbeutel an Patienten verabreicht wurden und niemandem – inklusive der behandelnden Ärzte – eine verminderte Wirksamkeit aufgefallen sei. „Dieser Umstand lag damals und liegt auch in unserem Fall an der Tatsache, dass schwer- und schwerstkranke Patienten behandelt werden und in den einzelnen Praxen über die Krankheitsverläufe keine statistischen/klinischen Untersuchungen durchgeführt werden“, so Stadler.

Die erneut antwortete das Ministerium, dass keine Erkenntnisse über qualitätsgeminderte in Bayern zubereitete patientenindividuelle Zytostatikalösungen vorlägen. Untersuchungen, die vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit nach dem Zyto-Skandal durchgeführt worden seien, hätten vielmehr die Qualität der geprüften Zubereitungen belegt. Ein Vorgehen gegen die AOK werde es daher weiterhin nicht geben.

 

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