Lohnhersteller

Störfall 300 Northfield Road APOTHEKE ADHOC, 29.12.2011 11:56 Uhr

Damals war die auf Sterilia spezialisierte Boehringer-Tochter Ben Venue gesperrt worden. Foto: Ohio Office for Redevelopment
Berlin - 

Wenn Ärzte und Apotheker Injektions- und Infusionslösungen vor der Anwendung auf Fremdpartikel kontrollieren müssen, dann kann mit den Sicherheitsstandards etwas nicht stimmen. Tatsächlich verschicken die europäischen Aufsichtsbehörden derzeit im Wochentakt neue Warnhinweise zu den unterschiedlichsten Arzneimitteln. Die Spurensuche führt zu einer Fabrik der Boehringer-Tochter Ben Venue in einem Vorort von Cleveland, Ohio: Weil der auf sterile Arzneiformen spezialisierte Lohnhersteller bei manchen Krebsmedikamenten der einzige Produzent weltweit ist, müssen die Krisenmanager in jedem Einzelfall abwägen, ob ein Rückruf überhaupt möglich ist.

Die Probleme bei Ben Venue waren in der ersten Jahreshälfte bekannt geworden. Im Mai hatten Inspektoren der US-Arzneimittelbehörde FDA massive GMP-Mängel beanstandet: In zwei Produkten, die im Südteil der Anlage hergestellt worden waren, waren Metallteilchen gefunden worden – seit 2006 seien insgesamt neun Beschwerden eingegangen. Antworten auf das Problem habe es aber nicht gegeben, möglicherweise stammten diese von ramponierten Türen im Zugangsbereich. Andere Lösungen waren mikrobiell verunreinigt – das Personal benutzte offenbar keine sterilen Handschuhe. Im Nordteil der Anlage war das Dach undicht – weil Regenwasser eindrang, war ein Kontrolle von Temperatur und Luftfeuchte unmöglich.

Anfang November inspizierten Prüfer aus Europa in der Produktionsanlage. Wieder wurde auf ungeklärte Kontaminationen hingewiesen, wieder war das Urteil vernichtend: Wartungsarbeiten würden nicht ordnungsgemäß durchgeführt, Qualitätsprüfungen weder rechtzeitig initiiert noch dokumentiert. Dem für die Validierung zuständigen Personal fehle es an technischer Expertise und an kontinuierlicher Schulung, das Management wiederum tappe über die Missstände teilweise im Dunkeln. Die Prüfer berichteten von unzulässigen Gehaltsschwankungen, die in der Vergangenheit festgestellt worden waren, und einem Fass mit einer unbekannten Flüssigkeit im Nordteil der Anlage.

Bei Ben Venue gebe es Probleme, ein ausreichendes Sterilitätsniveau sicherzustellen, lautete das Fazit der Prüfer. Die Firma, die 1999 von Boehringer übernommen worden war, reagierte wenige Tage nach der Inspektion und stellte Produktion und Vertrieb vorübergehend komplett ein, um die Probleme detailliert zu untersuchen.

Spätestens jetzt wurden die Probleme offensichtlich: Denn für eine Reihe von Fertigarzneimitteln und Produkten für die klinische Prüfung war Ben Venue bis dahin der einzige Hersteller weltweit. Konzerne wie Pfizer, Johnson & Johnson, Bristol-Myers Squibb, Pierre Fabre, Celgene, Gilead, Astellas, Takeda und Lonza ließen ihre Sterilprodukte ausschließlich in der Fabrik herstellen – und mussten sich schlagartig nach Alternativen umsehen.

Bereits nach der Inspektion im Mai hatte die kanadische Überwachungsbehörde ein Importverbot für alle bei Ben Venue hergestellten Produkte verhängt – abgesehen von 17 Medikamenten, die als „essentiell“ eingestuft wurden. Ähnlich waren in den vergangenen Wochen die Reaktionen in Europa: Die EMA wägt nach eigenen Angaben bei der Entscheidung über Rückruf-Empfehlungen eventuelle Risiken mit dem Nutzen der jeweiligen Präparate ab. Heißt im Klartext: Arzneimittel, die derzeit nicht aus anderer Produktion zu beziehen oder durch alternative Präparate zu ersetzen sind, können nicht vorsorglich vom Markt genommen werden.

Und so wurden hierzulande Ärzte und Apotheker aufgefordert, bei Ceplene (Histamindihydrochlorid, Meda), Torisel (Temsirolimus, Pfizer) und Uvadex (Methoxsalen, Therakos) auf Partikelverunreinigungen zu achten – vermutlich, weil keine andere Ware zur Verfügung steht. Verdachtsfälle auf Sepsis sollen umgehend gemeldet werden.

Besonders dramatisch ist die Liefersituation bei Caelyx (pegyliertes liposomales Doxorubicin, Janssen-Cilag): Mit dem Zytostatikum sollen keine neuen Patienten mehr behandelt werden – mittlerweile scheint das Produkt nicht mehr erhältlich zu sein. In den USA gibt es Berichten zufolge bereits Wartelisten für Krebspatienten.

Einem Boehringer-Sprecher zufolge steht noch nicht fest, wann der Betrieb in der Fabrik wieder aufgenommen wird. Im Sommer hatte ein Sprecher von Ben Venue gegenüber dem Wall Street Journal erklärt, dass sich das Unternehmen ganz aus der Lohnherstellung zurückziehen und auf das einfachere Generikageschäft fokussieren werde.

Kritiker sehen den Vorfall als weitere Bestätigung, wie gefährlich es für Patienten werden kann, wenn Hersteller die Produktion an einem Standort bündeln. Zwischenfälle hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben: zuletzt bei Hospira, Gilead und Johnson & Johnson. Der US-Kongress hat sich bereits für engmaschigere Kontrollen durch die FDA ausgesprochen: Bislang würden ausländische Produktionsstätten im Durchschnitt nur alle 13 Jahre inspiziert, in Asien – wo immerhin die meisten Wirkstoffe produziert werden – sogar nur alle 30 bis 40 Jahre.