Sexsucht wegen Parkinson-Medikament

„Sifrol zerstört Familien” Deniz Cicek-Görkem, 24.10.2018 15:17 Uhr

Berlin - 

Dopaminagonisten können zu Impulskontrollstörungen wie Sex- und Spielsucht führen. Dass diese Nebenwirkung keineswegs nur theoretischer Natur ist, zeigt der Bericht von Gertraud Himmelsberger*. Als Ehefrau eines an Parkinson erkrankten Mediziners berichtet sie, was sie aufgrund der Nebenwirkungen erlebt hat und warum das Gesundheitssystem auf solche Fälle nicht vorbereitet ist.

„Lassen Sie Ihrem Mann doch die Erotik”, musste sich Himmelsberger von einem Neurologie-Professor anhören, als sie diesem ihr Problem mit der Hypersexualität ihres Mannes schilderte. „Neurologen sind Männer und hören gar nicht hin”, sagt die 69-Jährige. Ärzte würden nicht fragen, wie es den Angehörigen dabei gehe und mit welchen Schwierigkeiten sie im Alltag zu kämpfen hätten. Erfahrungsgemäß sehe es bei Ärztinnen anders aus: „Sie haben Verständnis und fragen nach.” Denn Nebenwirkungen betreffen nicht nur denjenigen, der die Medikamente einnimmt, sondern auch Familie und Freunde. Doch manche Effekte würden Patienten gar nicht als unerwünschte Arzneimittelwirkung wahrnehmen, wie Himmelsberger ihren Mann aus einem Arztgespräch zitiert: „Wie geht es Ihnen, Kollege? Blendend! Wenn ich unter Frauen bin, ist es so, als ob ich kein Parkinson habe.”

Protagonist der Geschichte ist Sifrol (Pramipexol), der Dopaminagonist von Boehringer Ingelheim. Das Arzneimittel wurde von Dr. Markus Himmelsberger* mehrere Jahre lang eingenommen. „2007/08 begann er mit 0,5 mg und nahm dann 2015 schließlich Tabletten mit je 3,0 mg ein”, so die Ehefrau. Der Internist leidet seit etwa 20 Jahren an Morbus Parkinson und therapeutisch kamen im Laufe der Jahre verschiedene Wirkstoffe zum Einsatz. Sifrol will seine Frau daher nicht alleine an den Pranger stellen: „Diese Nebenwirkungen kommen bei vielen Dopaminagonisten vor.”

Was hat Pramipexol aus Dr. Himmelsberger gemacht? „Er ist zu einem anderen Mensch geworden”, erzählt Himmelsberger. Alles habe 2010 angefangen; ab diesem Zeitpunkt bemerkte sie Wesensveränderungen bei ihrem Mann, die sie auf das Medikament zurückführt. „Er hat den Garten umgebaut und Bäume gefällt, ohne vorher darüber geredet und mich informiert zu haben. Er gab hemmungslos Geld aus und kaufte sich viele Häuser auf Mallorca. Drei Viertel des Besitztums kamen so abhanden. Außerdem spielte er bis zu acht Stunden täglich Schach. Sein Interesse galt allen Frauen, er wurde von seinen Trieben gelenkt. Einmal ist er sogar zu seinen Ex-Schwägerinnen gegangen und hat Geld geboten gegen sexuelle Handlungen. Da habe ich gemerkt, dass er nicht mehr normal im Kopf ist.”

Himmelsberger berichtet von einem „Psychoterror”, der sie über mehrere Jahre begleitet habe. Als er mit seiner 12-jährigen Enkelin in die Sauna wollte, ahnte sie Schreckliches und wollte das vermeiden, was ihr auch gelang. „Es war furchtbar, das Ganze auszuhalten.” Zusätzlich zu Hypersexualität und Spielsucht kam kurze Zeit später eine Manie mit psychotischen Symptomen hinzu. „Auf Mallorca hat er Panikräume eingerichtet und sich auch mit Waffen ausgestattet”, so die Ehefrau. Sie fasst zusammen: „Markus hat Sifrol als Droge genutzt und später auch Kokain genommen.”

Aufgrund seines Verhaltens hätten alle unter ihm gelitten: Familie, Freunde als auch seine Praxis. „Die Nebenwirkungen haben die Familie gespalten. Ich hatte angeblich Alzheimer und Demenz und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Es ist ein furchtbares Gefühl, von der Familie dahin geschickt zu werden. Doch die Ärzte konnten bei mir nichts Pathologisches feststellen.” Ihre zwei erwachsenen Kinder hätten sich von ihr abgewendet. „Zu Beginn der Therapie haben wir uns nicht mit den Nebenwirkungen von Sifrol beschäftigt, da wir positive Effekte bei meinem Mann gesehen haben”, erklärt sie. Doch nach und nach habe sich die Situation immer weiter zugespitzt. Denn verständlicherweise teile sie als Ehefrau ihren Ehemann ungern mit anderen Frauen. „Mein Mann hat sich göttlich gefühlt und war glücklich mit den Tabletten.” Ähnliche Erfahrungen dürften auch andere Patienten gemacht haben, denn laut Arzneiverordnungsreport ist Pramipexol mit 20,9 Millionen Tagestherapiedosen der am häufigsten eingesetzte Dopaminagonist.

Himmelsberger wünscht sich von den Neurologen, dass sie sensibler für die Thematik werden und die Arzneimittel nicht unbedacht verordnen. „Das muss aufhören”, fordert sie. Es sei ethisch nicht tragbar, dass Ärzte das Mittel verschrieben, nur damit sich die Menschen bewegen könnten. „Sie sagen: ,Wir sind vorsichtig. Wir passen auf.’ Doch dann wird wieder Sifrol verschrieben”, moniert Himmelsberger. Bei betroffenen Patienten komme es unter der Therapie mit Dopaminagonisten immer zu den gleichen Dingen: „Frau weg, Auto weg, Haus weg”, fasst sie zusammen. Von anderen Betroffenen wisse sie beispielsweise, dass ein Parkinson-Patient neben seinem Haus ein Bordell eröffnet habe. „Ärzte finden das normal. Das ist komisch.” Ihr Fazit: „Familien sind wegen Sifrol reihenweise zerstört worden.”

Heute nimmt ihr Mann nicht mehr Sifrol ein. Stattdessen kämen Ongentys (Opicapon, Bial-Portela & Ca) und Madopar (Levodopa/Benserazid, Roche) zum Einsatz. Auch nach 47 Jahren Ehe habe sie es nicht bereut, ihn bei seiner Therapie zu unterstützen, auch wenn sie selbst zwischenzeitlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen musste. „Ich habe ihm immer wieder verziehen und versuche, das letzte bisschen Familie zu retten”, so ihre Motivation. „Ich unterstütze ihn bis ans Ende der Tage. Ich kann nicht wegsehen.” Er sei aktuell ein Pflegefall und habe die Pflegestufe 4, außerdem Selbstmordabsichten und auch Halluzinationen. „Ich pflege ihn zu Hause, es ist ein 24-Stunden-Job. Die Schwestern können es nicht leisten.” Sie möchte aber nicht als Vorbild dienen: „Jeder Mensch ist anders und muss es für sich entscheiden.“ Sie habe für sich einen Weg gefunden, mit der Situation klar zu kommen; der Buddhismus sei ihre Rettung.

Rückblickend habe Pramipexol ihre Familienstrukturen zunichte gemacht: „Ihm ist nicht bewusst, was er über die Zeit angerichtet hat. Mein Sohn redet immer noch nicht mit ihr, meine Tochter inzwischen schon”. Über ihren Ehepartner sagt sie: „Markus war ein toller Mann und hatte eine tolle Persönlichkeit. Davon gibt es jetzt keine Spur. ,Ich war ein Anderer’”, zitiert sie ihn. Bei Details blockiere er ab und wälze das Ganze in eine andere Richtung. „Meiner Meinung nach will er das Ganze verdrängen.”

Aufgrund ihrer Betroffenheit beschäftigt sich Himmelsberger seit Jahren mit den Nebenwirkungen dieser Arzneimittel und hat deshalb einen Ordner angelegt. Sie sammelt und dokumentiert Zeitungsberichte, sowohl von der Fach- als auch Laienpresse, durchforstet Foren und tauscht sich mit anderen Betroffenen aus. Für sie relevante Textpassagen markiert sie in grün, pink oder rot – manchmal auch nur mit einem Kugelschreiber. „Dopaminagoisten stimulieren das Belohnungssystem im Gehirn in ähnlicher Weise wie Kokain” oder „Ich habe mich völlig verändert und meine Familie verlassen”, sind zwei solcher Beispiele. Zwischen den Zeilen zeichnet sich ab, dass die markierten Stellen viel mehr sind als nur Farbe auf weißem Grund. Die vielen großen Ausrufe- und Fragezeichen auf dem Papier sind Ausdruck des Leidensdrucks, den bislang niemand wirklich verstanden hat.

* Namen von der Redaktion geändert