Report Mainz

Vor dem Rückruf: Contergan-Versuche an Kindern APOTHEKE ADHOC, 18.08.2020 08:41 Uhr

Tests an Kindern: „Report Mainz“ berichtet neue erschütternde Details zum Contergan-Skandal. Foto: Dieter Dosquet
Berlin - 

Im Contergan-Skandal gibt es nach Recherchen des ARD-Politikmagazins „Report Mainz“ neue Details. Demnach wurde das Mittel an hunderten Säuglingen und kranken Kindern getestet, bevor es 1961 vom Markt genommen wurde. „Report Mainz“ liegen mehrere solcher Medikamentenstudien vor.
 

In der Caritas-Lungenheilanstalt „Maria Grünewald“ in Wittlich in Rheinland-Pfalz wurde der Einfluss von Contergan an über 300 tuberkulosekranken Kindern getestet. Den zwei bis vierzehn Jahre alten Kindern wurden teilweise gezielt Überdosen verabreicht. Ob Kinder dadurch geschädigt wurden, ist nicht bekannt. Die Ergebnisse der entsprechenden Studie wurden Ende des Jahres 1960 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon seit mehr als einem Jahr zahlreiche Hinweise auf die schweren Nebenwirkungen von Contergan. Außerdem hat ein niedergelassener Kinderarzt aus Stuttgart Contergan an zwei Wochen alte Säuglinge verabreicht. Er führte seine Tests an 89 Kindern durch. Er wollte damit die Wirkung des Schlafmittels auf unruhige und „verhaltensgestörte“ Kinder erproben.

Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach bezeichnete die Medikamentenstudien mit Contergan im Interview mit „Report Mainz“ als Menschenversuche. Die Publikation aus der Heilstätte „Maria Grünewald“ sei ein bestürzendes Zeitdokument. „Die Studie hätte so niemals durchgeführt und publiziert werden dürfen“, so Lauterbach. „Man ist quasi volles Risiko gegangen, wie man es sonst nur in Tierversuchen wagen kann.“ Solch eine grobe Gefährdung von Kindern hätte für die Ärzte heute wahrscheinlich Haftstrafen zur Konsequenz, so Lauterbach. Alle beteiligten Ärzte hätten eine sehr hohe Schuld auf sich genommen.

Triers Weihbischof Franz Josef Gebert, zugleich Vorsitzender des Caritasverbandes für die Diözese Trier, sagte im Interview mit „Report Mainz“, man habe nichts von den Versuchen gewusst und sei erschüttert. Die Geschehnisse wolle man aufklären. „Soweit wir das tun können, bedauern wir das sehr und entschuldigen uns für Fehler, die unter dem Namen der Caritas passiert sind“, so Gebert. Es sei beschämend, wenn wehrlose Kinder zu Objekten von Experimenten würden. „Das ist ja Körperverletzung.“

Der Hersteller Grünenthal teilte „Report Mainz“ mit, Medikamentenstudien an Kindern seien zur damaligen Zeit nicht unüblich gewesen. Aus heutiger Sicht seien sie aber nicht nachzuvollziehen. Außerdem entsprächen sie nicht den aktuellen strengen, ethischen Grundsätzen der Arzneimittelforschung. Die Contergan-Tragödie werde immer Teil der Firmengeschichte von Grünenthal bleiben. Die weitreichenden Folgen für die betroffenen Menschen bedauere man zutiefst.

Contergan wurde 1961 wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen. Zuvor waren weltweit tausende Kinder mit Fehlbildungen geboren worden, deren Mütter während der Schwangerschaft das Medikament unter anderem gegen Übelkeit eingenommen hatten. Contergan wurde bis dahin als harmloses Schlaf- und Beruhigungsmittel beworben, vor allem für Schwangere, aber auch für Kinder. Im Volksmund wurde es auch als „Kinosaft“ bezeichnet, der selbst kleinen Kindern verabreicht werden könne, wenn die Eltern ausgehen wollen.