Zu häufig verordnet

Antikörper gegen Migräne: TK will intervenieren Cynthia Möthrath, 24.08.2020 14:29 Uhr

CGRP-Antikörper zur Migräne-Prophylaxe werden oftmals zu unspezifisch verordnet. Foto: Sjstudio6/shutterstock.com
Berlin - 

Seit 2018 stehen CGRP-Antikörper für die Migräne-Prophylaxe zur Verfügung. Sie werden zwar zunehmend verordnet, in vielen Fällen jedoch zu ungezielt und nicht nur bei den Patienten, für die sie gedacht sind – das ist das Ergebnis des Kopfschmerzreports der Techniker Krankenkasse (TK).

Migräne gehört mit über acht Millionen Betroffenen zu den häufigsten Kopfschmerzformen. Man unterscheidet zwischen der episodischen und der chronischen Form. Bei Letzterer kommt es zu mehr als 15 Kopfschmerz- und mindestens acht Migränetagen pro Monat. 75 Prozent der Patienten mit dieser Form leiden an zahlreichen Komorbiditäten, vor allem an psychischen Erkrankungen wie Depression und Angststörungen.

Verordnungen steigen kontinuierlich

Daher war die Einführung der CGRP-Antikörper für viele Migräne-Patienten ein Hoffnungsschimmer. Der erste in Deutschland zugelassene CGRP-Antikörper war Erenumab im November 2018. Es folgten Galcanezumab im April 2019 und Fremanezumab im Mai 2019. Die Wirkung basiert auf die Bindung an den Liganden des CGRP (Calcitonin Gene-Related-Peptide), das bei Migräneanfällen vermehrt im synaptischen Spalt ausgeschüttet wird.

Die Verordnungen seien kontinuierlich stark gestiegen, berichtet die TK. Gesetzlich Versicherte haben demnach im Januar 2019 rund 200.000 Tagesdosen verschrieben bekommen, im Oktober waren es mit etwas mehr als 500.000 Tagesdosen mehr als doppelt so viele. Die Zahlen entsprechen in etwa einer Verordnung von 7500 Spritzen Anfang 2019 und knapp 13.000 im Oktober 2019. Bei Frauen komme die Substanzklasse deutlich häufiger zum Einsatz – rund 90 Prozent der Versicherten mit einer entsprechenden Verordnung seien weiblich gewesen, schreibt die TK. Die monatlichen Kosten seien stetig gestiegen – im Oktober 2019 lagen sie hochgerechnet auf die gesamte gesetzliche Krankenversicherung bei etwa 9,4 Millionen Euro.

Antikörper zielgerichteter einsetzen

Eine Therapie mit CGRP-Antikörpern hat dem Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zufolge nur dann einen Zusatznutzen, wenn keine der sechs verfügbaren Vortherapien wirkt. Die TK verzeichnet bei den steigenden Verordnungen allerdings einen ungezielten Einsatz: Gut die Hälfte der Versicherten, die einen solchen Antikörper verordnet bekam, hatte keine Vortherapie erhalten, bei einem Viertel war es nur eine statt sechs. „Wir sehen in unseren Daten jedoch, dass diese neuen Medikamente nicht immer zielgerichtet eingesetzt werden und die Patienten deutlich weniger Vortherapien erhalten haben. Hier sehen wir Handlungs- und Aufklärungsbedarf“, sagt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK.

Professor Dr. Hartmut Göbel, Facharzt für Neurologie und spezielle Schmerztherapie, erläutert erneut das Einsatzgebiet der Antikörper: „Die CGRP-Antikörper sind für Patienten mit monatlich mindestens vier Migränetagen gedacht, die auf bisherige zugelassene Medikamente zur Prophylaxe nicht ansprechen, sie nicht vertragen oder aufgrund anderer Krankheiten nicht einnehmen können.“ Diese Voraussetzungen müssten vor der Verordnung geklärt sein, da im Durchschnitt die Immuntherapie nicht wirksamer sei als bisherige Therapieverfahren. „Nach meiner klinischen Erfahrung und wissenschaftlichen Studien wirken sie unter diesen Voraussetzungen bei etwa einem Drittel dieser Patientengruppe“, fügt er hinzu.

Doch auch die neue Substanzklasse ist kein Wundermittel: „Die Behandlungen helfen, einen Teil der Attacken zu reduzieren. Für Betroffene ist es darüber hinaus essenziell, ihr Verhalten und ihren Lebensstil an die genetisch verankerten Grundlagen der Migräne anzupassen.“ Ein komplettes Verschwinden der Migräne sei allerdings selten.

Insgesamt leiden der TK zufolge 7 Prozent der Frauen und gut 2 Prozent der Männer unter Migräne – damit sind Frauen dreimal so häufig betroffen. Am häufigsten sind Menschen zwischen dem 45. und 54. Lebensjahr betroffen: Hier sind insgesamt 6,6 Prozent der Versicherten betroffen – rund 10 Prozent der Frauen und 2,7 Prozent der Männer.